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Der Erfolg der rechtsextremen Front National bei der Bürgermeisterwahl im südfranzösischen Vitrolles kam nicht überraschend. Seit Jahren ist die Gegend um Marseille eine Hochburg der FN. Überzeugt hat die WählerInnen deren Fundamentalopposition „gegen Paris“ und das Versprechen, „echte“ Franzosen zu bevorzugen. Aus Vitrolles Dorothea Hahn

Populärer Feldzug gegen das System

Jahrzehntelang wählten die kleinen Leute von Vitrolles links, ganz früher sogar kommunistisch. Der vorerst letzte linke Bürgermeister der südfranzösischen Kleinstadt, der Sozialist Jean- Jacques Anglade, belohnte ihre Treue nicht. Während seiner 13 Amtsjahre verschanzte er sich im Rathaus des 40.000-Einwohner- Ortes und überließ die Öffentlichkeitsarbeit einem PR-Büro. „Bürgernähe“ suchte er erst, als es zu spät war, als ein Untersuchungsverfahren wegen falscher Rechnungsführung gegen ihn lief und als die Vitrollais davon überzeugt waren, daß er „nur in die eigenen Taschen und in die seiner Freunde“ wirtschafte.

Am Sonntag bekamen Anglade und Vitrolles die Rechnung präsentiert: Im entscheidenden zweiten Durchgang der Kommunalwahl erhielt der Sozialist nur 47,5 Prozent der Stimmen, die Kandidatin der rechtsextremen Front National (FN), Catherine Mégret, dagegen 52,5 Prozent. Die Partei des Jean-Marie Le Pen regiert damit in vier französischen Städten, alle im Süden des Landes.

Woher rührt der Erfolg der Nationalisten gerade in einer Stadt wie Vitrolles? In angenehmer Erinnerung bleibt von dem Ort nur das Licht. Ein helles mediterranes Leuchten, das die Kalkfelsen auf beiden Seiten der langgezogenen Stadt und der benachbarte große Salzwassersee Berre noch reflektieren. Alles andere ist austauschbar wie in einer US-amerikanischen Vorstadt: Fast-food-Restaurant, Großparkplätze, Billig-Supermärkte, Mehrfamilienhäuser, uniforme Einfamilienhäuschen und Autos, Autos, Autos.

Vitrolles entstand auf dem Reißbrett. In den sechziger Jahren, als nicht einmal 4.000 Menschen in dem gleichnamigen Dorf rund um den zentralen Felsen wohnten, entschieden Urbanisten zusammen mit Pariser Politikern, daß der Großraum Marseille mit seinen Industrie- und Hafenanlagen weiter expandieren sollte; die Invasion der pieds noirs, jener Franzosen, die aus dem gerade unabhängig gewordenen Algerien in den Midi Frankreichs geflohen waren, hatte einen gravierenden Wohnungsmangel offenbart. Das rund 20 Kilometer nordwestlich von Marseille gelegene Vitrolles wurde auserkoren, langfristig 200.000 Menschen aufzunehmen.

Bei knapp 40.000 ist es geblieben. Sie bewohnen heute die zehn Kilometer in dem breiten Tal der Rhône, die Vitrolles heißen. Der Bummelzug aus Marseille hält an einem Schotterstreifen, ohne Bahnsteige und ohne Schalterbeamte. Wer in Vitrolles einsteigen will, muß seine Fahrkarte im Zug kaufen – vorausgesetzt, er hat jemanden, der ihn mit dem Auto zum Bahnhof bringt, denn Busse gibt es kaum. Nach 20 Uhr verkehren sie überhaupt nicht mehr.

„Jeder hat hier ein Auto“, sagen die Vitrollais, die ihre Einfamilienhäuser von vornherein mit Parkplätzen ausgestattet haben. Zwei Autobahnen rahmen Vitrolles ein. Parallel zu einer von ihnen verläuft die Trasse des Hochgeschwindigkeitszuges. Jedesmal, wenn der TGV zwischen Marseille und Paris durchfährt, donnert das Tal. Hingegen fliegen die Maschinen, die auf dem Marseiller Flughafen am östlichen Ortsende von Vitrolles landen, meist seitlich ein. Ihr Lärm trifft die Nachbargemeinden. Die meisten Vitrollais sind andernorts geboren, aber sie fühlen sich heimisch in ihrer Straßenstadt – die „echten“ Immigranten, von denen es in Vitrolles nicht mehr und nicht weniger als anderswo im Lande gibt, genauso wie die „eingeborenen“ Franzosen. Viele von ihnen kamen in den siebziger Jahren, weil die Arbeitsplätze in den Industrieanlagen des benachbarten Fos-sur-Mer sie lockten und weil sie in Vitrolles ohne Eigenmittel mit Hilfe staatlicher Kredite Hausbesitzer werden konnten.

Die Stadt bekam schnell eine dichte Infrastruktur. Sie hat Schulen aller Stufen, Bibliotheken, mehrere Sportanlagen und Jugendzentren, eine Festhalle und ein eigenes Kino. Vom Ortseingang bis zum -ausgang überwachen Videokameras, die die sozialistische Verwaltung installiert hat, den öffentlichen Raum. Ein Krankenhaus ist im Bau. Aber im Gegensatz zu den Gründerjahren, als die Vitrollais jung und vollbeschäftigt waren, haben viele heute erwachsene Kinder, die arbeitslos sind. Die Arbeitslosigkeit ist nicht höher als anderswo in den Bouches-de-Rhône. Aber die Krise der Werften und der Stahlindustrie von Fos-sur-Mer verheißt keinerlei Besserung für die Zukunft.

Dieses brachliegende Terrain an der Basis konnte die Front National in aller Seelenruhe beackern. Sie eröffnete in Vitrolles Sozialberatungen, schickte ihre völkisch inspirierte Organisation „Fraternité Française“ vor Ort und ließ ihre Leute in die Elternkomitees der Schulen und in die Sprechergruppen des Sozialen Wohnungsbaus wählen. Außerdem infiltrierte die Partei wie überall Gewerkschaften und Bürgerinitiativen. Sozialpolitisch verspricht sie den kleinen Leuten von Vitrolles die „nationale Präferenz“ – die gegen französische Gesetze verstoßende Bevorzugung eingeborener Franzosen bei der Arbeits- und Wohnungsvergabe. Außerdem die Senkung der Gemeindesteuern sowie der Wasserabgaben und niedrigere Abgaben für Unternehmen, die in Vitrolles investieren. Kulturpolitisch propagiert die FN alles, was „der Mehrheit gefällt“: von Folklore bis zu Lokalgeschichtspflege und „Breitensport statt Elitenförderung“.

Die Fundamentalopposition der örtlichen FN „gegen Paris“, gegen „die korrupte Elite“ und gegen die „Altparteien“ sorgte für das Profil als revolutionäre Partei, die das marode System von außen attackiert. Daran ändert nichts, daß das Kandidatenpaar Catherine und Bruno Mégret seinerseits aus Paris eingeflogen und in Vitrolles nicht einmal wahlberechtigt ist.

Die rechtsextremen Bürgermeister, die bereits im Juni 1995 in Orange, Toulon und Marignane gewählt wurden, leisteten den Kollegen in Vitrolles Wahlhilfe. Sie bewiesen, daß die Front National punktuell in der Lage ist, Komunalpolitik zu machen. So enthält in Marignane neuerdings jedes Schulessen Schweinefleisch. In Toulon wurde der bekannteste Theaterdirektor entlassen, weil er sich öffentlich gegen die Front National ausgesprochen hat. In Orange sorgte der Bürgermeister für die Bestückung der Bibliothek mit nationalrevolutionärem Gedankengut und die Kündigung der Abonnements linker Tageszeitungen. Wo immer die rechtsextremen drei bislang gescheitert sind – auf den Gebieten Arbeitslosigkeit, Vertreibung von Immigranten und Senkung der Kriminalität –, machen sie bequemerweise die „Altparteien“ verantwortlich.

Im benachbarten Vitrolles brauchte es acht Jahre Agitation auf dem Terrain, bis die Stadt der Front National wie eine reife Frucht in den Schoß fiel.

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