Lebenslang Lernen

■ Arbeitgeber und Unionschristen versuchen, den gesetzlich verbrieften Anspruch auf Bildungsurlaub zu untergraben

Daß Reisen bildet, wußte Johann Gottfried von Herder schon anno 1820: „Wie anders lernet man die Welt kennen; je weiter man in sie tritt: jeder Schritt ist Erfahrung; und jede Erfahrung bildet.“ Sich weiterbilden – und dabei auch noch ausspannen? Dem vom monotonen Arbeitsalltag zermürbten Kopf frischen Wind und neue Gedanken einhauchen? Für viele kann dieser Wunsch Realität werden: In zehn von 16 Bundesländern haben die Arbeitnehmer das Recht, jährlich mehrere Tage bezahlten Bildungsurlaub zu nehmen. In den Ländern mit eigenen Freistellungsgesetzen kann der Arbeitgeber den gewünschten Termin in der Regel nur ablehnen, wenn zwingende betriebliche Belange den Vorrang haben. Dagegen gibt es in Baden- Württemberg, Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen keine Bildungsurlaubsgesetze, sondern nur ähnliche Regelungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes – alle anderen Arbeitnehmer können hier nur darauf hoffen, daß der Bildungsurlaub in ihre Tarif- oder Arbeitsverträge aufgenommen wurde.

Obwohl Bildung in erster Linie Ländersache ist, fordert der DGB seit Jahren ein Weiterbildungs- Rahmengesetz auf Bundesebene. Ziel des Vorstoßes der Gewerkschaften ist es, die Weiterbildung zu einem gleichberechtigten Teil des Bildungswesens auszubauen. „Durch ein solches Gesetz würden die Länder auch in Sachen Bildungsurlaub mehr in die Pflicht genommen“, erhofft sich Wolfgang Hansmeier, Berliner Geschäftsführer von „Arbeit und Leben“, eines vom DGB und den Volkshochschulen betriebenen gemeinnützigen Vereines, der Kurse zur politischen Bildung anbietet.

Aber auch in den zehn Bundesländern, in denen der Bildungsurlaub gesetzlich verankert wurde, gilt der Anspruch zunächst einmal theoretisch. Praktisch wird das verbriefte Recht im Bundesdurchschnitt von schlappen 1,5 Prozent der Sozialversicherungspflichtigen genutzt. Viele Arbeitnehmer sind nicht nur schlecht informiert, sondern werden – angesichts der Massenarbeitslosigkeit – zunehmend von ihren Arbeitgebern unter Druck gesetzt, denen das Recht auf Bildungsurlaub seit jeher ein Dorn im Auge war. In Hessen, Rheinland-Pfalz oder Bayern erhalten die Unternehmer Schützenhilfe von der CDU/CSU. Die Arbeitgeber und Unionschristen behaupten, die zusätzlichen Kosten erhöhten die Lohnnebenkosten und gefährdeten damit den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein Scheinargument – denn bei vielen Firmen liegen die Ausgaben für den Bildungsurlaub gerade mal im Promillebereich. Außerdem erfordern neue Unternehmenskonzepte, aufgrund der damit verbundenen Delegation von Kompetenz und der erwünschten Eigenverantwortung der Mitarbeiter, eine ständige Weiterbildung und Qualifizierung der Arbeitnehmer.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1987 auf die Notwendigkeit „lebenslangen Lernens“ hingewiesen und damit auch das Freistellungsrecht der Arbeitnehmer gerechtfertigt. Doch der Widerstand der Arbeitgeber ließ nicht nach: Massenhaft zogen sie vor die Arbeitsgerichte, um das Recht der Arbeitnehmer weiter zu torpedieren. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Düsseldorf befaßte sich zuletzt im Dezember 1995 mit dem Bildungsurlaub. Streitpunkt war die Frage, ob das von einem Bildungswerk angebotene Ökologieseminar am Wattenmeer zum Thema „Nordsee: Die Müllkippe Europas“ zur politischen Bildung gehöre oder nicht – das BAG erkannte den Kurs schließlich an.

Der Fall war allerdings exemplarisch: Einerseits versuchen die Arbeitgeber verstärkt, die politische Bildung in den Freizeitbereich zu verbannen, während sie gegen betriebliche Fortbildung, wie etwa EDV-Kurse, nur selten Einwände haben. Andererseits ist der angebliche Mißbrauch des Bildungsurlaubs eines der Hauptargumente der Kritiker. Zu Unrecht, wie die Bildungsurlaubs-Anbieter meinen: „Es ist schon absurd. Immer wieder wird auf dem Ökologie-Thema rumgeritten. Dabei handelt es sich nur um einen von mehreren hundert Kursen“, so Hansmeier von „Arbeit und Leben“. „Wer sich mit Ökologie auskennt, der weiß auch, daß gewisse Dinge erfahrbar gemacht werden müssen.“ Und daher biete sich ein Besuch vor Ort an. Doch während für Manager erlebnisorientierte und kreativitätsfördernde Fortbildungen längst zum Standardrepertoire moderner Unternehmenskultur gehören, gilt das für die einfachen Malocher noch lange nicht. Ole Schulz