piwik no script img

Kein Bock mehr auf öde Chemieformeln

■ Berliner Verwaltungsgericht verhandelt den Unterrichtsboykott eines Gymnasiasten

Berlin (taz) – Von chemischen Formeln hält Benjamin Kiesewetter überhaupt nichts. Der 17jährige boykottiert seit 1996 den Chemieunterricht am Westberliner Robert-Blum-Gymnasium. Das sei, sagt er forsch und frech, eben „sinnlos“ für sein weiteres Leben.

Kiesewetter ist der erste Schüler in Deutschland, der gerichtlich seine Befreiung von einem ungeliebten Unterrichtsfach durchsetzen will. Gestern lag sein Fall dem Berliner Verwaltungsgericht vor, das innerhalb der nächsten zwei Wochen nun ein schriftliches Urteil fällen will. Für Kiesewetter kein Grund zur Panik, denn eines hat er schon mal erreicht: Sein Fall sorgt bundesweit für Aufsehen. Ein halbes Dutzend Kamerateams verfolgten den Schüler, der sich massiv von den chemischen Gesetzen drangsaliert sieht, gestern bis in den Gerichtssaal. Dort versuchte sein Anwalt klarzustellen, daß Kiesewetter durchaus kein durchgeknallter Pennäler ist – auch wenn ihn seine genervte Lehrerschaft dafür hält. In der Tat ist der Schüler als Mitglied der Kinderrechtsgruppe K. R. Ä. T. Z. Ä. eher ein Profiprotestler in Sachen Jugendrechte. Schon vor der Bundestagswahl 1994 hatte er – erfolglos – gegen die Altersbegrenzung des Wahlrechts geklagt. Auf die Idee mit dem Chemie-Boykott kam er, weil er das Fach als besonders exemplarisches Beispiel von „Zwangslernen“ empfand. Um zu beweisen, daß auch andere Leute von ihrer sturen Paukerei nichts behielten, hatte er gleich 20 Lehrer getestet. Das Ergebnis übertraf seine kühnsten Erwartungen: Die von ihm erfragte Summenformel der Alkane kannte nur noch einer.

Also ging auch er nicht mehr zum Unterricht und begründete das ausführlich. Kiesewetters Schulleiter meinte, dem Kläger ginge es ums Prinzip, nämlich um „eine ganz andere Schule“, wodurch die Sache Verfassungsrang bekäme. Auch der Richter sprach schlicht von einem „absoluten Novum“. Die juristische Problematik verdeutlichte er durch Vergleiche mit der Einführung des umstrittenen Sexualkundeunterrichts oder des Religionsunterrichts in Brandenburg. Auch der Fall einer muslimischen Berliner Schülerin, die 1986 gegen die Teilnahme am Sportunterricht erfolgreich geklagt hatte, spiegele die Kompliziertheit des Sachverhalts wider. Kiesewetter hatte noch tags zuvor kein gutes Haar am „Teilzeitgefängnis“ Schule gelassen. Von seinen Lehrern kann er deshalb wenig Sympathie erwarten: „Die sagten mir offen ins Gesicht, daß es sie ankotzt, sich schon wieder auf einer Versammlung mit dem Thema befassen zu müssen.“ Gunnar Leue

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen