: Gegen die Gedenkroutine
■ Das Hamburger Institut für Sozialforschung zwischen Publicity und Gewaltdiskursen
Im Frühjahr 1995 verließ das Hamburger Institut für Sozialforschung seine fachwissenschaftliche Klause und begab sich auf populärere Wege. Es eröffnete in Hamburg die Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, die Dokumente zeigte über die Beteiligung der Wehrmacht an der Vernichtungspolitik der Nazis. Inmitten der Gedenkroutine des Jahres 1995 widerlegte das Institut so die offiziellen Geschichtslegenden des neuen großdeutschen Staates.
Das Resultat: Proteste, aber ebensoviel Neugier und Zustimmung. So bekommt der Münchener Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) täglich Schmähbriefe, weil er die Ausstellung eröffnen und im Rathaus einquartieren will. Wegen des erwarteten Besucherandrangs wurde die Eröffnung am 24. Februar in die Uni verlegt. Dann wird auch Jan Philipp Reemtsma in München sein. Er hat das Institut 1984 gegründet. Doch erst Anfang der Neunziger wurden die Sozialforscher und Historiker bundesweit wahrgenommen. Das lag zum einen an der institutseigenen Zeitschrift mit der Hausanschrift Mittelweg 36 im Titel, die seit April 1992 erscheint; zum anderen an dem Buchverlag Hamburger Edition, der seit Ende 1994 Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter und Lizenzausgaben historischer und soziologischer Bücher herausgibt. In der Instituts-Bibliothek stehen etwa zwölftausend Bände, und es gibt ein Archiv zu ausgewählten Forschungsgebieten.
Doch nach jahrelanger Expansion und öffentlicher Resonanz sollte es um das Institut ruhiger werden, lautete die Prognose seines Leiters Reemtsma in einem Interview Ende 1995: „Das Institut muß wieder in eine normale Phase eintreten, in der wissenschaftliche Aufsätze geschrieben und eher unspektakuläre Bücher geschrieben werden.“ Da ahnte er noch nicht, daß die spektakulärste Aktion noch bevorstand und ihm persönlich galt. In der Hamburger Edition ist jetzt sein Buch Im Keller über die eigene Entführung herausgekommen – kurz bevor das Hamburger Landgericht vergangene Woche Mittäter Peter Richter und Wolfgang Koszics zu fünf und zehneinhalb Jahren Haft verurteilte. Daß sich wissenschaftliche Arbeit und persönliche Biographie auf diese bittere Art verknüpften, ist schon von Prozeßbeobachtern beschrieben worden. Denn Schwerpunkt der Institutsarbeit war über Jahre hinweg das Projekt 1995/45 – Gewalt und Destruktivität im 20. Jahrhundert. Auf Podiumsdiskussionen, in Büchern und Schriftenreihen wurden Formen von Gewalt diskutiert: der Atombombenabwurf auf Hiro-shima, der sowjetischen Gulag oder die Möglichkeit, staatliche Gewalt juristisch zu verfolgen. Reemtsma selber hat über Mord, Entführung und Folter als Mittel staatlichen Terrors geschrieben. Staatliche Gewalt verfolgt ein politisches Ziel, im Unterschied zu Menschenraub und Erpressung, denen er selber zum Opfer fiel. Sie entbehrten jeden politischen Motivs, auch wenn manche angesichts der nicht immer unkritischen Resonanz auf die Institutsarbeit darüber spekulierten. Für das Opfer sind die Motive der Entführer eminent wichtig: Aus politischen Gründen Verschleppte können sich in den seltensten Fällen freikaufen.
Eine andere Ausstellung des Instituts versucht, verschiedene Gewaltformen in einen Zusammenhang zu bringen. 200 Tage und 1 Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945 – das sind Bilder aus Kambodscha, Hiroshima, aus Algerien, El Salvador, aufgenommen von 1945 bis 1993. Den Zuschauern blieb es überlassen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gewaltformen herauszufinden.
Reemtsmas Entführung hat noch einmal zu Bewußtsein gebracht, daß neben „kalter“, bürokratischer Gewalt mannigfache andere Arten existieren, die gesellschaftliche Gruppen wie Einzelpersonen betreffen können. Vielleicht kommt nach dieser unfreiwillig erhaltenen Publicity ja jetzt die „normale Phase“ unspektakulärer wissenschaftlicher Arbeit. Mario Scalla
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