Wie ein schleichender Tiger im Käfig

■ Unter der Regie von Karin Beier wurde Bizets Carmen im Theater am Goetheplatz zu einer modernen Frau

Trotz ihres katastrophalen Durchfalls bei der Uraufführung 1875 ist die Oper Carmen von Georges Bizet nicht nur die meist gespielte Oper der Welt: Kaum jemand, der nicht auch über den Film von Carlos Saura die Gestalt kennt, und kaum jemand, der bar jeglicher Kunstkenntnisse nicht doch eine diffuse Vorstellung davon hat, wer und wie Carmen sei: Zwischen den Attributen femme fatale, Opfer einer Männergesellschaft und einer sogar von Feministinnen beanspruchten freien Frau bewegen sich die Einschätzungen und Urteile. Und in bezug auf Carmens Beziehung zu Don José hat sich Nietzsches Urteil hartnäckig gehalten, es handle sich um „Liebe als Fatum“ und um den „Todeshaß der Geschlechter“.

Daß dies alles auch sehr anders gesehen werden kann, bewies nun Karin Beier in einer bemerkenswerten Inszenierung am Bremer Theater. Die junge Regisseurin, die am Düsseldorfer und auch am Hamburger Schauspielhaus eine Reihe von aufsehenerregenden Klassiker-Inszenierungen vorgelegt hat, will vor allem eines nicht: daß Carmen ein Mythos ist. Und so entwickelt sie mit großer Genauigkeit eine moderne Frau, deren Begegnung mit José nicht Schicksal, sondern Zufall ist, die liebt, und die sehr verzweifelt merkt, daß diese Liebe nicht funktionieren kann.

Doch da ist zunächst einmal ein männlich bestimmtes soziales Umfeld, das durch und durch bedrückend ist: Die Zigarettenarbeiterinnen im ersten Akt haben in ihrer Mittagspause, die nicht an einem Platz in Sevilla stattfindet, sicher nicht als erstes und einziges die lauernden Soldaten im Kopf, sondern sind in ihren grauen Overalls reichlich erschöpft und lesen Zeitung.

Die Schmugglerkneipe Lilas Pastias, die Carmen José vor ihrer Flucht so betörend anbietet: betrunkene Männer, für die die drei Zigeunerinnen gegen Geld tanzen müssen. Karin Beier hat gerade diesem Bild alle vordergründige Lebenslust ausgetrieben. In dieser Kneipe befindet sich auch Escamillo, der sein Torerolied in volltrunkenem Zustand abliefert und keinen Zweifel darüber läßt, daß diese öde Inkarnation von protziger Männlichkeit ganz sicher keine Alternative und schon gar keine Konkurrenz für José ist. Daß der lyrischen Stimme von Heikki Kilpeläinen jegliche Brutalität fehlt, nutzt Karin Beier geschickt für die Farblosigkeit der Figur.

Als José am Ende des dritten Aktes mit Micaela zur sterbenden Mutter wegstürmt, steht Carmen in grenzenloser Einsamkeit auf der riesigen leeren Bühne. Und folgerichtig singt sie ihr Liebesbekenntnis für Escamillo in Richtung Don José, den sie in der Menge entdeckt hat. Und folgerichtig befindet sich Escamillo im Schlußbild auch nicht in der Arena, sondern als reine Projektion steht er wie ein Schatten im Hintergrund. Auch dieser allerletzte Dialog zeigt noch einmal Carmens aussichtsloses Ringen um diese Beziehung – wie ein ständig laufender Tiger im Käfig gibt sie ihrer inneren Spannung Ausdruck: es ist ganz sicher nicht die Angst vor dem Tod.

Fredrika Brillembourg fixiert diese Carmen neben ihrer gesanglichen Leistung brillant: das Leben des Spiels mit Männern ist ihr zur zweiten Natur geworden, ihr Kampf um das Leben kann nur darüber laufen. Das ist ihr Konflikt, aber auch ihre Lust.

Nichts ist eindeutig in dieser kräftigen und zugleich sensiblen Inszenierung. Don José ist ein Muttersöhnchen, der um sein Gewaltpotential sehr wohl weiß. Carmens Liebe ausgerechnet zu ihm sieht Karin Beier darin, daß er wohl der erste Mann ist, der ihretwegen etwas auf sich nimmt – nämlich seinen Arrest. Verkrampft, bieder, linkisch bietet Bruce Rankin ebenso wie Brillembourg eine überragend differenzierte Leistung, die weit ab ist von dem, was landläufig auch in guten Inszenierungen immer noch Oper ist: singend über die Runden kommen. Kristen Strejc als nervtötend schön singende Micaela ist keine reale Figur in dieser Welt, sondern ein weißer Engel mit Reifrock,der das das enge Bürgertum, aus dem José kommt, verdeutlicht.

Das Bühnenbild von Florian Etti bietet über vier Akte nur Gerüste, keine Möglichkeit fürs Publikum, sich genußvoll in Folklore einzurichten. Diesen Aspekt unterstützen auch die kargen Kostüme von Maria Roers, aus denen dann Carmens Festkleid für das Schlußbild sowohl künstlich als auch in seinen Symbolfarben schwarz-rot sinngebend herausragt.

Günter Neuhold bot mit dem Philharmonischen Staatsorchester neben dem bekannten Carmen-Feuer differenzierte Farben an. Großer, geradezu betroffener Beifall, in den sich einige verlorene, in einer Premiere obligatorische Buhrufe mischten, für einen aufregenden Theaterabend, der einen Blick auf Geschlechterverhältnisse eröffnet, wie man ihn selten so eindringlich und ohne jede Ideologie gesehen hat.

Ute Schalz-Laurenze

Aufführungen am 19., 22. und 26. 2. um 19.30 Uhr