: Kartoffeln aus der Mythenküche
■ Amourenanalyse trifft Deutungswille: György Dalos liest aus „Der Gast aus der Zukunft“
Es war ein Treffen mit Folgen. Der Ort: ein schäbiges, fast leeres Zimmer in Leningrad in der Nacht des 25. November 1945. Die Personen: der 35jährige Isaiah Berlin, britischer Diplomat in Moskau, und die 20 Jahre ältere Anna Achmatowa, eine der bekanntesten russischsprachigen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Sie trafen sich zufällig und redeten zwölf Stunden lang: über Literatur, über Privates, anscheinend nichts von welthistorischer Bedeutung. Trotzdem war Achmatowa bis zu ihrem Tod 1966 überzeugt: ihre Begegnung mit Berlin muß den kalten Krieg ausgelöst haben.
Halluzinationen einer Größenwahnsinnigen? Der in Berlin lebende ungarische Schriftsteller György Dalos ist dieser Frage nachgegangen. Aus Moskauer Aktenmaterial, Interviews mit Zeitzeugen und mit Isaiah Berlin in Oxford zeichnete Dalos in Der Gast aus der Zukunft diese Nacht und ihre Folgen minutiös nach, bis zu der Frage, wer damals die Kartoffeln kochte. Dalos' Zusammenfassung dieses zuweilen irritierenden Detailüberflusses: „Wäre Stalin auf die Idee gekommen, die Begegnung (...) als Vorwand zum Einfrieren dieser (der sowjetisch-britischen) Beziehungen zu benutzen, dann hätte niemand diesen Prozeß aufhalten können“.
Wie groß Stalins Interesse an der Dichterin war, ließ sich nur anhand von Legenden deuten und blieb so thesenhaft. Der Gast aus der Zukunft hätte die ausschweifenden Deutungen nicht nötig. Das Buch zeigt anhand weniger, gründlich interpretierter biographischer Stationen, welche Folgen das Treffen einer prominenten Sowjetbürgerin mit einem Ausländer im Jahre 1945 haben konnte. Spionagevorwürfe, Ausschluß aus dem Schriftstellerverband, Entzug der Lebensmittelmarken, Internierung ihres Sohnes Lew – Anna Achmatowa mußte zeitlebens für diese Nacht büßen. Dalos beleuchtet, welche absurden Mechanismen im literarischen Betrieb wirkten. Sie habe nur zwei oder drei gute (sprich: staatskonforme) Gedichte geschrieben, kommentierte Stalin die Kampagne gegen die Dichterin. Lyrik, beurteilt und gesegnet nach Quantität und Sollerfüllung.
Das Buch berichtet faktenreich und differenziert von der Verfolgung Achmatowas einerseits. Andererseits analysierte es eine seltsame Liebesgeschichte: Berlin nahm nach 1945 einen entscheidenden Platz in Achmatowas Schaffen ein. Noch Jahre später widmete sie ihm Liebesgedichte. Es ist schwer nachvollziehbar, soll aber wahr sein: eine Nacht kann ein Leben verändern.
Barbora Paluskova
Dalos liest heute im Literaturhaus, Schwanenwik 38, 20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen