Alte Zeichen, neue Zeichen

■ „Tri Istorii – Drei Geschichten“ von Kira Muratova im Wettbewerb

Die erste Geschichte über das Töten erzählt Kira Muratova aus dem „Kesselraum Nr. 5“: Ein Mann in Hut und Mantel, den Hauptrequisiten gewesenen sozialistischen Theaters, hat im Affekt seine schöne Nachbarin umgebracht, weil diese immer nackt in der Wohnung herumlief. Nun bittet er den Heizer, die Leiche zu verbrennen. Doch bevor er seine Bitte los wird, muß er sich von einem sadistisch anmutenden Schönling küssen lassen, das Geplapper eines Dicken aus der Schwulensauna anhören und die pathetischen Verse des Heizers. „Noch ist nicht klar, wer wessen Sklave ist“ – der Schwule der seines Herrn, der Heizer der des Feuers, der Mörder der seines Opfers? Oder umgekehrt. Bei Kira Muratova geht es immer ein wenig zu, als würden Cocteau und Beckett noch leben – nur in Rußland –, flankiert von einigen Expressionisten.

Ihr Kesselraum aus der ersten Geschichte ist wohl auch das Innere des Bergs, der die Lava der Geschichte produziert: So wie Ofa – die Heldin der zweiten Geschichte „Ofelia“ – die universelle Tochter ist, die ihre Mutter aufspürt und Muttermord begeht, weil sie einst zur Adoption freigegeben und also verlassen wurde, so wird das kleine Mädchen – aus der dritten Episode „Der Tod und das Mädchen“ – zum universellen Kind gemacht, das frißt, was von der Revolution übriggeblieben ist, nicht etwa umgekehrt. Das kleine Mädchen vergiftet den gütigen Großvater, einen Nachbarn, der auf das Kind achtgibt und ihm „zu seinem Besten“ allerlei verbietet, zum Beispiel allein hinauszugehen und auf der Straße zu spazieren. Nachtigall, ich hör dir trapsen.

Ofa, ein Drittel Schaufensterpuppe, ein Drittel Nadja Auermann, ein Drittel Nofretete, ist weit mehr monströser Maschinenmensch als das kleine Mädchen Hexe. Ofa wird zur Herrin der Geheimarchive eines Krankenhauses, in dem auch alle Adoptionsunterlagen liegen. Will sagen, Ofa eignet sich die Macht an, und die Macht heißt Information, nicht unbedingt Wissen. „Ofelia“? „Olympia“ hätte diese Geschichte heißen müssen.

Muratovas Filme sind exzentrisch und also stets anstrengend, viele Szenen nahezu unverständlich, aber immer auch reich. Muratova verbindet alte Zeichen zu absurden Kontexten, hier ein langer dicker russischer Seitenzopf, da ein russisches Volkslied im Hintergrund, Ofas Schuhe von Manolo Blahnik, dann Matrosenblusen, das hochdramatische Make-up, vielleicht von Givenchy, und die Häuser und Straßen von Odessa, Kira Muratovas Heimat. Einzelne, Familien, mathematisch redundante Turteleien vor medizinischen Instrumenten und anatomischen Tafelbildern, schwule und lesbische Subtexte, alte Frauen, die nach ihren Müttern schreien. Keiner versteht keinen. Das einzige, was man weiß, ist, daß „Wissen Mitschuld ist“, aber selbst das nicht so genau.

Ich nenne dies hier einen komplexen Film. Ich liebe ihn. Leider wird ihn kaum einer sehen wollen. Anke Westphal

„Tri Istorii – Drei Geschichten“. Rußland 1996, 115 Min. Regie: Kira Muratova. Mit Sergej Makovetskij, Leonid Kushnir u.a.

Heute: 9.30 Uhr Royal Palast; 21 Uhr Urania