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Eingeboren im Cyberspace

■ Pessimistische Utopie aus Kalifornien: Für das Leben im Cyberspace dürfen sich Internet-User jetzt endlich einen neuen Körper basteln

Die Propheten des Internet reden gerne in Bildern, über deren Sinn sich kaum noch jemand Gedanken macht. Es wimmelt von Metaphern des Fortschritts. Manche sind leicht aufzulösen, wie zum Beispiel die „Datenautobahn“, die zwar eine platte Übersetzung des „Information Superhighway“ ist, aber einen dennoch auf eine völlig falsche Spur lockt.

Denn im Netz, sonst hieße ja nicht so, finden die Informationen ihren Weg von A nach B durchaus querfeldein. Staus gibt es bekanntermaßen trotzdem. Schwieriger ist schon die von Anfang an literarische Metapher des „Cyberspace“ zu durchschauen. John Perry Barlow, einst Texter der Popband Grateful Dead, hat eine wahre Hymne auf diesen neuen Lebensraum gedichtet, dessen Bürger keine anderen Gesetze als die der Freiheit und Brüderlichkeit kennen.

Wo aber wohnen solche Netizens? Datenströme bilden keine Räume, und Metaphern, die sich derart verselbständigen, daß ihr ursprünglicher Sinn in Vergessenheit gerät, sind weniger ein ästhetisches als vielmehr ein politisches Problem.

Seit nunmehr fast zwei Jahren arbeitet die Künstlerin Victoria Vesna an der Universität von Santa Barbara in Kalifornien daran, Konsequenzen aus solchen Ideologien darzustellen. Wenn das Internet ein Raum für freie Menschen ist, so lautet ihre schlichte These, dann muß es auch menschliche Körper geben, die ihn bewohnen. Was bei Victoria Vesna daraus folgt, ist eine der schwärzesten, pessimistischsten Utopien, die zur Zeit im Internet zu besichtigen sind. Also das ganze Gegenteil dessen, was sich Walt Whitman einst mit „I Sing the Body Electric“ versprach. Victoria Vesna und ihre Mitarbeiter haben genau die Menschen geschaffen, die den Bedingungen des Cyberspace genügen.

Die Programmiersprachen „Java“, die für die universale Übertragbarkeit sorgt, und „VRML“ (Virtual Reality Markup Language), die dreidimensionale, bewegliche Grafiken erzeugt, machen es möglich, bloßen Gedankenspielereien und Redewendungen eine sichtbare Gestalt zu geben. Und wenn die dazu erforderlichen Browser-Plug-ins noch nicht installiert sind, geschieht dies auf Wunsch automatisch – ferngesteuert über das Netz.

Unter dem vielsagenden Titel „Bodies Incorporated“ (wörtlich: „verkörperte Körper“, mit einer Anspielung auf das „Incorporated“ der amerikanischen Aktiengesellschaften) sind dann echte Eingeborene des Internets auf den Bildschirm zu holen. Keine Vorboten und Fürsprecher einer wunderbaren neuen Gesellschaft, sondern Bilder menschlicher Körper, die in dieser Zukunft exstieren müssen, weil sie nur dort denkbar sind.

Keineswegs bloß aus satirischen Gründen haben sie längst einen totalen Staat gegründet, der sie beschützt und behütet. Die inneren Bezirke der Website http:// www.arts.ucsb.edu/bodiesinc/ sind nur unter Angabe einer E-Mail- Adresse, eines Namens und nach Vergabe eines Paßwortes betretbar. Und selbst auf die eingeweihten Mitglieder warten an beinahe jeder Ecke Verpflichtungserklärungen und absurde Regeln: „Gardenien und andere Blumen müssen unter absoluter Kontrolle gehalten werden.“ Bei Verstößen gegen den Unsinnsterror sind schwere Strafen angedroht.

Gewiß ist auch das nur Fiktion. Eine kurze Darstellung der Vorgeschichte erläutert die Überlegungen, die zu diesem Stadium des Projekts geführt haben, das selbstverständlich noch lange nicht vollendet ist. Die technischen Schwierigkeiten sind erkennbar noch immer enorm. Die dreidimensionale Animation versagt oft ihren Dienst. Immerhin gilt es, etwa 3.000 mit der Maus bewegbare Bilder menschlicher Körper über das Netz zu senden – so viele Einwohner hat dieser Datenraum bis jetzt hervorgebracht, wenn man die Toten mitrechnet.

Schemenhaft, nur aus einer einzigen Lichtquelle beleuchtet, tauchen die Körper aus einem schwarzen Bildhintergrund auf. Sie haben noch keine Welt, die sie umgibt, sie sind absolute Individuen, die es noch nicht ganz geschafft haben, sich aus der ewigen Nacht der Daten zu lösen. Besonders glücklich scheint ihr Leben nicht zu sein. Es sind beladene, blicklose Geschöpfe. Zwar sind keine Kleider mehr nötig, das Geschlecht verliert die eindeutige Rolle, die es in der irdischen Gegenwart noch spielt. Es gibt plötzlich schwangere Männer, aber der Preis dafür ist hoch. Die Gliedmaßen passen nicht recht zusammen, und die Haut kann aus allen möglichen Materialien bestehen. Manchmal ist sie verschorft wie eine Kraterlandschaft, manchmal leuchtend wie ein Meer in der Sonne, dann wieder grau wie Stein.

Nichts davon ist eine bloße Erfindung der Künstlerin. Victoria Vesna nimmt nicht nur die Metapher des Raumes beim Wort, sondern auch die ideologisch hochaufgeladene Rede der interaktiven Dimension des Internets. Jede dieser Figuren ist ausschließlich die Schöpfung eines Internetnutzers, der sich auf diese fatale Website eingelassen hat. Wer ein Paßwort besitzt, ist Mitglied des Privatstaates Bodies Incorporated und damit strengstens verpflichtet, selbst einen Bewohner des Cyberspace zusammenzustellen. Als Besitzer dieses bestellten Körpers wird er für sein weiteres Schicksal verantwortlich sein, so steht es in den Statuten.

Victoria Vesna bietet eine Liste mit genormten Bauteilen an. Zur Auswahl stehen Köpfe, Rümpfe, Arme und Beine in drei Größen und zwei Geschlechtsvarianten, zwei Dutzend Oberflächenstrukturen für die Haut, neben vergleichsweise realistischen vor allem surreale wie „Nebel“ und „Wasser“, oder sprichwörtliche wie „Schokolade“. Dazu kommen psychologische und soziale Parameter, die über die Auswahlliste hinaus auch frei definierbar sind – was übrigens auch für das Geschlecht gilt.

Diese immateriellen Persönlichkeitsmerkmale können Vesnas Programmierkünstler heute noch nicht auswerten. Die sichtbaren Ergebnisse der interaktiven Schöpfungsakte sind schrecklich genug. Nicht etwa deswegen, weil die Netzfreaks darauf versessen sind, Monster zu zeugen. Im Gegenteil: Weil sich überaus viele ihren Cyberkörper auch als Geschlechtspartner wünschen, haben sie sich Mühe gegeben, ihn nach konventionellen Maßstäben attraktiv auszustatten. Aber genau das hilft nichts. Selbst die Schönheiten sind Ungeheuer, die sich nicht einmal Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein vorstellen konnte. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de

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