piwik no script img

Wie Mike Tyson an einem schlechten Tag

■ Absolut sehenswert: „Der ganze Mond“ aus Neuseeland beim Kinderfilmfest

Wer hat sich das noch nicht gefragt: Du hast nicht mehr lange zu leben, was nimmst du dir vor? Erfüllst du dir ein paar Kumpelträume wie Til Schweiger? Noch mal ficken? Eine Bank überfallen? Aber wie ist das „Knocking on Heavens Door“, wenn du, sagen wir mal, erst 17 Jahre alt bist? Wenn dein größter Wunsch bis vor kurzem noch eine sturmfreie Bude für eine einzige Nacht war, wenn du dein Leben eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hast zu leben? Was wünscht du dir dann? Kämpft du, oder gibst du dich auf? Ist das nicht ein bißchen früh, mit 17 so was gefragt zu werden? Fragen stellt der australische Jugendfilm „Der ganze Mond“ viele. Antworten hat er keine, aber eine Geschichte, die herzzerreißend ist, und das ist nicht nur so dahingeschrieben.

Marty ist ein schwarzes Ghettokind, eine, die auf der Straße zuviel erlebt hat, als daß sie noch jemanden vertrauen könnte. Eine Coolio-CD liegt neben ihrem Krankenbett, mit Kopftuch und tief eingemummelt in den Kapuzenpulli wirkt sie wie die jugendliche, aber ganz sicher nicht jugendfreie Version von Queen Latifah. Kirk ist weiß, hat reiche Eltern, eine pausbäckig hübsche Freundin und ist Leistungssportler. Beide treffen sich auf der Kinderkrebsstation eines Krankenhauses in Auckland.

Kirk hat einem Tumor im Knochenmark, vielleicht wird er sein Bein verlieren, steif wird es auf jeden Fall auch nach der Operation bleiben. Marty hat Leukämie, sie weiß, daß sie sterben wird, aber noch weiß sie nicht wann. Eigentlich müßte sie schon längst tot sein, aber sie will das Ende zu ihren Bedingungen. „My time“, sagt sie. Die beiden können sich nicht ab. Marty beklaut Kirk, beschimpft ihn als Weichei. Er meint, sie sei kein Mädchen, sondern „Mike Tyson an einem schlechten Tag“.

Doch wir sind hier im Kino, also werden sich die beiden so unterschiedlichen Menschen einmal tief in die Augen schauen und dort eine verwandte Seele entdecken: verlassen, allein mit dem Schmerz und der Angst. „Ihr könnt das nicht verstehen“, brüllt Kirk seine Eltern an und räumt mit der Krücke die Pokalsammlung vom Regal. „Jeder hat Angst vor dem Tod, außer ich“, sagt Marty. Und: „Ich brauche niemanden.“ Beides ist eine Lüge.

Sie hilft ihm, oder besser: treibt ihn an, reizt ihn, daß er wieder gehen lernt. Er ist eine Aufgabe, die schließlich zum Freund wird. Aus der Freundschaft, dem vorsichtigen Vertrauen wird Liebe. Sie hauen ab, gönnen sich ein paar Tage, obwohl sie wissen, daß Marty dann schneller sterben wird. Und dann, dann steht der Mond doch plötzlich ganz voll und rund am Himmel. Die Protagonisten solcher Filme sind sonst entweder kleine Kinder oder alte Menschen. Hier wird es um so finsterer, weil jemand, der erst die Liebe findet, ihre heilende Wirkung entdeckt, noch schmerzvoller aus dem Leben scheidet.

Regisseur Ian Mune, Ordensträger des britischen Empire für seine Verdienste um Film und Theater, hat das hart an der Grenze zum Kitsch inszeniert, aber wenn die Musik mal wieder übertreibt, sind es die Schauspieler, vor allem Nikki Si'ulepa als Marty, die den Film vor dem Abschmieren retten, weil sie sich alle großen Gesten verkneifen. Ein Blick genügt, und man glaubt zu verstehen.

Hier behalten die Menschen, auch wenn ihnen die Haare in Büscheln ausfallen, ihre Scham und ihre Würde und gewinnen sogar eine ganz andere, eigene Schönheit. Irgendwann ziehen sich die zwei Perücken über die Glatzen, aber das ist und bleibt eine Verkleidung. Sie beide wissen das. Thomas Winkler

„Der ganze Mond“, Neuseeland 1995, 96 Min.; 22. 2., 16 Uhr, FaF, 23. 2., 16 Uhr, Titania

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen