: Der Schatten des Regens an der Wand
■ „Ösge vacht“ von Husseyn Mechtiew aus Aserbaidshan lief im Forum
Vor fünfundzwanzig Jahren war Aserbaidshan für mich das Land der orientalischen Prinzessinnen. Auch Lejla ist so eine Schönheit mit dunklen Augen und hüftlangem Haar, wie sie im Sputnik zu sehen waren. Lejla ist jung, schön, verliebt und musikalisch. Sie arbeitet als erste Violinistin im Orchester. Lejlas Vater war früher Maler, doch seit dem Tod seiner Frau hat er den Pinsel nicht mehr angerührt. Eines Tages, Lejla ist vielleicht 18 oder 20, stürzt er beim Taubenfüttern vom Dach. Fortan vegetiert er im Rollstuhl und muß gepflegt werden. Lejla über nimmt diese Aufgabe, die selbst der Arzt für zu schwer hält.
Boshafter Patient, standfeste Pflegerin
„Ösge vacht“ ist, man staune, nicht unbedingt ein moralisch-ethischer Film über den Fluch des Gut-sein- Wollens oder die Pflicht der Jungen gegenüber den Alten. Die Krankheit des Vaters bietet Lejla vielmehr auch die Gelegenheit dem Leben, sprich: der Liebe, der Ehe, den Freunden, auszuweichen und in ein abstraktes Märtyrertum zu flüchten. Die Pflegerinnen kündigen eine nach der anderen – der Patient ist boshaft –, doch Lejla weigert sich, ihren Vater in ein Pflegeheim zu geben. Statt dessen gibt sie ihre Arbeit als Künstlerin auf. Die Antworten auf die Briefe ihres Liebsten schickt sie nie ab, sie legt sie einfach in eine Schublade.
Gleich zu Anfang des Films findet der Regisseur für die neurotische Symbiose zwischen Tochter und Vater ein wunderbares Bild: Er zeigt Lejla, den im Rollstuhl sitzenden Vater und Lejlas Liebsten im Krankenhausfahrstuhl eingeschlossen wie in einem Sarg. Tatsächlich wird Lejla die Wohnung von nun an kaum noch verlassen. Vollkommen allein mit dem debilen Vater und dessen Tauben nähert sie sich immer mehr der Grenze zwischen Angstneurose und Wahn.
Äpfel werden zu gläsernen Kugeln
Ihr Bewußtsein organisiert sich gefährlich neu: Die Tauben fliegen wie der Heilige Geist durch die Zimmerdecke, Äpfel verwandeln sich im Fall in gläserne Kugeln. Sie will trinken, allein – ihre Hände greifen nach den Schatten des Regens an der Wand. Eines Tages stellt Lejla auch die Uhr ab.
So vergehen Jahre. Lejla wird am Ende doch nicht verrückt – das bekommt dem Film außerordentlich gut. Als der Vater tot ist oder doch nur abgeholt von den Ärzten – das erklärt der Film nicht, und es ist auch nicht nötig –, setzt sich Lejla für einen Moment in seinen Rollstuhl, und man bekommt Angst. Doch dann steht sie auf und schließt die Tür zur Gruft. Mit Lejlas „Nein“ kehrt die Farbe in ihr Leben und in den Film zurück. Anke Westphal
„Ösge vacht – Fremde Zeit“. Aserbaidshan 1996. 85 Minuten. Regie: Husseyn Mechtiew. Mit: Ayan Mirkasimova, Aladdin Abbasov und anderen.
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