: Das andere Frankreich meldet sich zurück
Die Organisatoren hatten mit einer eher symbolischen Demonstration gerechnet. Doch am Samstag protestierten Zehntausende gegen das von der Regierung Chirac geplante neue Ausländergesetz ■ Aus Paris Dorothea Hahn
„Erste Generation, zweite Generation, dritte Generation – wir sind alle Kinder der Immigration!“ Der Slogan hallt durch die Pariser Innenstadt. In vorderster Reihe rufen ihn die „echten Papierlosen“ – Afrikaner und Asiaten, die trotz allen Engagements nur die zwangsweise Abschiebung statt der Aufenthaltspapiere bekommen. Dahinter skandieren ihn die Spitzen der Gewerkschaften und der linken Parteien.
Dominique Voynet ist da, die oberste Grüne, und Robert Hue, der erste Kommunist. Lionel Jospin, der Sozialistenchef, fehlt. Er demonstriert in kleinem Kreis in Toulouse, wo er im nächsten Jahr regieren möchte. Weiter hinten schallt der Slogan aus den Mündern von Filmstars, Regisseuren, Schriftstellern, Musikern, Anwälten, Journalisten – und zigtausend anderer Demonstranten. Eine Mischung aus Vorstadtkids, politisch Engagierten und elegant gekleideten Bourgeois ist auf die Straße gegangen, um gegen das neue Ausländergesetz zu protestieren.
Das Rendezvous am Pariser Ostbahnhof war lange geplant. Eine Gruppe von Intellektuellen, Nachfahren von Immigranten, wollten sich am Samstag vor der zweiten parlamentarischen Lesung des nach dem Innenminister benannten Debré-Gesetzes mit einem Koffer an jenem Ort einfinden, an dem 1940 die Deportationen begannen. Die neue Meldepflicht für ausländische Gäste vergleichen sie mit jener aus Vichy- Frankreich, die zur Meldung jüdischer Gäste zwang. „Dieses Mal wissen wir Bescheid.“
Eine symbolische Menschenkette war anvisiert. Eine gigantische Menschenmenge ist gekommen. Die kollektive Selbstanzeigen der Künstler, die vor knapp zwei Wochen ganz klein begann, hat sie moblisiert. „Wir sind schuldig, Ausländer ohne Aufenthaltspapiere beherbergt zu haben. Wir werden es wieder tun. Wir rufen unsere Mitbürger zum Ungehorsam auf und dazu, sich nicht unmenschlichen Gesetzen zu unterwerfen“, bekannten inzwischen Tausende von Franzosen. Die meisten sind an diesem Samstag ohne Koffer unterwegs. Ein paar Jugendliche tanzen zu Khaleds Rai- Song „Ayșa“. Bloß die Anarchosyndikalisten marschieren in dicht geschlossenen Reihen. Nach vier Stunden singen sie immer noch die Internationale und halten die Fäuste hoch.
Auf Transparenten läßt das andere Frankreich, das sich in der Tradition von Revolution, Laizismus, Republik und Résistance zu Hause fühlt, seinen Assoziationen freien Lauf. „Ich bin Franzose, kein Denunziant“ steht auf einem. „Denunziant gleich Kollaborateur“ auf einem anderen.
Bei der Ankunft am Place de ChÛtelet fehlt es an Platz. Die Menschenmenge übersteigt alle Erwartungen. Die Lautsprecheranlage reicht nicht aus. „Ein Erfolg wie lange nicht mehr“, sagt der Präsident von SOS-Racisme, Fodé Sylla, „eine Bewußtwerdung der Bürger“, der Präsident der Liga für Menschenrechte, Henri Leclerc.
Am hintersten Zugende, direkt vor den grünen Reinigungsfahrzeugen der Stadt Paris, laufen Blasmusikanten mit Rastalocken und spielen einen Rap. Zwei Mädchen mit geflochtenen Zöpfen tanzen dazu. Mit ihren Koffern beschreiben sie große Kreise in die Luft. Bei jeder Drehung leuchten die Judensterne, die sie sich auf die Brust geheftet haben, auf.
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