: Ein Heiliger für Politik
Noch aber hat Zar Nikolaus II. die letzte Hürde zu seiner Heiligsprechung nicht genommen ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Bei vielen Babuschkas hängt sein Konterfei schon heute neben der Ikone. Aber ob Rußlands letzter Zar, Nikolaus II., die Hürde vor der Heiligkeit auch offiziell nehmen kann, steht noch dahin. In der vergangenen Woche beschäftigte sich ein fünftägiges Konzil der russisch-orthodoxen Kirche mit dieser Frage. Deren höchste Instanz, der Heilige Synod, hatte Ende letzten Jahres das Kanonisierungsverfahren für den Monarchen freigegeben. Die Kommission, die sich mit der Heiligsprechung befaßt, fand jedoch keinen Grund für die Kanonisierung des Zaren. Mit Unterschriftensammlungen für und gegen die Heiligsprechung war die Kommission unter Druck gesetzt worden. Der Synod verschob deshalb die umstrittene Entscheidung auf ein Kirchenkonzil, das noch in diesem Jahr stattfinden soll. Für die russisch-orthodoxe Kirche im Exil ist die Frage bereits entschieden – seit 15 Jahren sind Nikolaus und seine Familie für sie heilig.
Christlich-fundamentalistische, ja sogar extrem chauvinistische Zirkel, die den Zaren vergöttern, sind in Rußland auf dem Vormarsch. Eine gerichtlich verbotene Sekte namens „Zentrum der Gottesgebärerin“ griff sogar den Ereignissen vor. Im Eigengang kanonisierte sie nicht nur die gesamte Familie des Imperators, sondern auch deren Hofdame Anna Wyrubowa und Hofwunderheiler Grigori Rasputin. In dieser Liste fehlt nur noch das japanische Hofhündchen der kaiserlichen Familie, das in der schicksalsschweren Nacht vom 16. zum 17. Juni 1918 unschuldig mit dem Zaren, seiner Gattin, deren vier Töchtern und dem Zarewitsch Alexis in Jekaterinenburg im Kugelhagel starb.
Auch wenn jemand ohne eigenes Zutun zum Märtyrer wurde, kann er innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche heilig gesprochen werden. Zumal wenn er wie Nikolaus II. Zeugenberichten zufolge während der Monate seiner Gefangenschaft die eines Märtyrers würdige Haltung an den Tag gelegt hat. Und auch noch Oberhaupt der Kirche war, die nun über ihn zu Rate sitzt. Vielen galt seine Exekution als weiterer Versuch, diese Kirche zu zerstören. Seine Heiligsprechung wäre ein Triumph kirchlichen Überlebens.
In noch einer Hinsicht war der letzte russische Zar vorbildlich – als Ehemann und Vater. Die Achtung, die er seiner Frau erwies, die Fürsorge und viele Freizeit, die er seinen Kindern widmete, darunter dem an der Bluterkrankheit leidenden kleinen Alexis, lassen ihn als wahrhaft modernen Mann erscheinen. Nur wollte es eben das Unglück, daß „Niki“, wie ihn die Seinen nannten, nicht nur eine Familie hatte, sondern ganz nebenbei auch noch ein Volk.
Selbst am 9. Januar 1905, der als „Blutsonntag“ in die Geschichte einging, weil Kosaken Hunderte von demonstrierenden Arbeitern vor dem Petersburger Winterpalast niederkartätschten, ließ sich der Zar nicht von den gewohnten Spaziergängen und Mahlzeiten mit der Familie abbringen. Als die aufständische lettische Stadt Tukkum Ende des gleichen Jahres die anrückende russische Artillerie um Schonung bat, sich ergab und die Bevölkerung die Soldaten auf den Knien mit Ikonen empfing, schalt Nikolaus den kurländischen Generalgouverneur: „Das ist kein Grund, man hätte die Stadt zerstören müssen!“ Weder die horrenden Menschenopfer der russischen Armee im Krieg mit Japan und im Ersten Weltkrieg vermochten ihn zu rühren noch die Tausenden Hungertoten daheim.
Die Kehrseite dieser Schonungslosigkeit bildeten Zögern und Unentschlossenheit des Zaren. Die revolutionäre Entwicklung im Lande hat er buchstäblich vertrödelt. Sowohl die Einrichtung eines Parlaments nach der Revolution von 1905 als auch Nikolaus' Rücktritt als Zar im Februar 1917 wurden ihm vom Volk und weitsichtigeren Verwandten abgetrotzt – viel zu spät.
Die rund zehntausend Heiligen der russisch-orthodoxen Kirche brauchen junge Konkurrenz nicht zu fürchten. Ihre Beziehung zum Volk hat sich über Jahrhunderte eingependelt. Jeder Heilige hat exakt definierte Kompetenzen. Da gibt es einen für die Kühe, einen für die Schafe und einen dritten fürs Geflügel. Da die idyllischeren Himmelsposten alle besetzt sind, würde es Zar Niki als Heiligem nicht erspart bleiben, auf dem steinigen Feld der Politik zu ackern, das ihm schon zu Lebzeiten so wenig lag.
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