: Der kleine Dewes und der große Dewes
Sie sind ungleiche Brüder. Der eine wollte nur sein Leben ändern, der andere am liebsten die Welt. Beide zogen aus dem Saarland nach Thüringen. Der eine ist heute Dezernent in Weimar, der andere Innenminister ■ Von Manuela Thieme
Richard Dewes stürmt im langen Mantel durch die Welt, ist temperamentvoll und redet sofort drauflos. Rudolf Dewes fühlt sich im Anorak wohl, ist die Ruhe selbst und formuliert ganz vorsichtig. Die beiden Brüder kamen aus dem Saarland, um in Thüringen Politik zu machen, und sie haben es weit gebracht. Richard Dewes residiert in Erfurt, ist Innenminister und SPD-Landesvorsitzender. Rudolf Dewes sitzt in Weimar, ist Dezernent und ebenfalls Sozialdemokrat. Außer ihrer Partei haben die beiden noch exakt zwei Gemeinsamkeiten. Das eine sind ihre lustigen Augen, das andere ist ihre ziemlich kleine Statur.
Politiker aus dem Saarland scheinen nie besonders groß zu geraten. Honecker war bekanntlich ein schmales Männchen, und Lafontaine müßte wohl in die Änderungsschneiderei, wenn er sich nicht Maßanzüge leisten könnte. Aber darum geht es nicht. Es geht um die zwei Brüder, die vom Westen in den Osten kamen, um hier Karriere zu machen. Sie können beide zufrieden sein. Hoch lebe die Einheit! Und da sich die Dewes- Brüder jetzt auch noch über die PDS zerstritten haben, gehört ihre keine Geschichte durchaus zur großen Politik. Bis zum Wechsel nach Thüringen regelte der gewaltige Altersunterschied ihr Verhältnis. Rudolf, der Jüngere, 36 Jahre, bewunderte Richard, den Älteren, 48 Jahre, und eiferte ihm nach: Jura-Studium, SPD-Beitritt, Politikambitionen. Richard, der Energische, wiederum ermunterte Rudolf, den Bedächtigen, als die Thüringer Landtagsfraktion der SPD 1991 einen Referenten für Rechtsfragen suchte.
Rudolf Dewes saß in Saarbrücken und sagte sich: „Vier-, fünfhundert Kilometer auf der Autobahn, das ist ja vielleicht gerade noch auszuhalten.“ Nie vorher hatte er das Saarland verlassen, weder beruflich noch für sein Studium. Er nennt das „Bodenständigkeit“. Andererseits langweilte er sich als Justitiar bei der Arbeiterwohlfahrt doch allzusehr. Also bewarb er sich in Erfurt. Das Wagnis lohnte sich doppelt, denn nebenbei konnte er damit auch aus dem Aktionskreis seines großen Bruders verschwinden. Richard Dewes gehörte seinerzeit als Staatssekretär zum Lafontaine- Kabinett. Für Rudolfs politische Hoffnungen blieb damit kein Platz mehr im Saarland, überall wurde er nur als „der kleine Dewes“ registriert. Ein dummes Gefühl für einen erwachsenen Mann von damals 31 Jahren. Dann lieber Heimwehanfälle.
Die beschreibt er gern auch ausführlicher, und während er von römischen Ausgrabungen, Kohlengruben und Flußlandschaften schwärmt, fängt man an, sich darüber zu wundern, warum Politiker aus dem Saarland irgendwie immer so ausgeprägte Heimatgefühle haben. Honecker war ein einziges Mal öffentlich in purer Ausgelassenheit zu erleben, und das war 1987 bei seinem Staatsbesuch im Westen, als er in die Gegend seiner Kindheit kam. Und Lafontaine ist sowieso Saarland-Fanatiker. Aber wie gesagt, darum soll es hier nicht gehen. Es geht um die Gebrüder Dewes und ihr familiäres Gemeinschaftswerk „Karriere Ost“.
Bis 1994 blieb Rudolf der einzige Dewes-Politiker in Thüringen. Er hatte als Rechtsexperte ordentlich zu tun, im Osten wurden Gesetze im Akkord beschlossen. Als die Wahlen anstanden, stellte sich dann heraus, daß der damalige SPD-Landeschef Gerd Schuchardt keinen Innenminister für sein Schattenkabinett fand. Da besann er sich auf Richard Dewes. Der Staatssekretär aus dem Saarland war ihm als überaus munterer Gast auf einem Forum zur „Inneren Sicherheit“ in Erfurt aufgefallen. Der kleine Bruder schwört: „Ich habe an dieser Personalentscheidung keinen Anteil.“ Nun ja. Rudolf hatte Richard einst zu jenem Forum eingeladen. Wie auch immer. Für Richard Dewes kam das Angebot zur rechten Zeit. Er ärgerte sich gerade sehr über die Gemütlichkeit in seinem Saarbrücker Ministerium.
Die beiden Brüder gingen also in Thüringen zusammen auf Wahlkampftour. Rudolf saß hinterm Steuer und organisierte alles, Richard hielt die Reden und bekam den Beifall. Das klingt ungerecht, aber anders lassen sich die Rollen zwischen den beiden Männern nicht verteilen. Der eine mag glanzvolle Auftritte, dem anderen reichen knifflige Aufgaben. Der eine provoziert gern, der andere schlichtet lieber. Bis hin zu ihren Hobbies sind sie grundverschieden. Der eine hat teure Pferde auf dem Hof, der andere sammelt seltene Steine. Richard und Rudolf Dewes, das ungleiche Paar – die 94er Wahl brachte die beiden endgültig wieder zusammen. Die CDU siegte mit 42,6 Prozent, die SPD landete bei 29,6 Prozent, die PDS bekam 16,6 Prozent. FDP und Grüne blieben auf der Strecke. Richard Dewes wurde Innenminister einer Großen Koalition, Rudolf Dewes blieb zunächst noch im Landtag. Alsbald hatte er jedoch wieder das Gefühl, zum „kleinen Dewes“ zurückgestuft zu werden. Er floh ein zweites Mal vor der Übermacht seines großen Bruders. Als die SPD in Weimar einen Dezernenten suchte, wechselte er erleichtert dorthin.
Doch das Ausweichmanöver klappte nur bedingt, denn Richard Dewes hat ein Lieblingsthema, das sich am Beispiel von Weimar besonders gut strapazieren läßt. Seit er im letzten Frühjahr Landesvorsitzender der SPD wurde, redet er unentwegt davon, daß die PDS nach den nächsten Wahlen ein möglicher Koalitionspartner sein könnte. Weimar wiederum ist die erste wichtige Stadt in Thüringen, in der SPD, PDS und Grüne schon jetzt offiziell zusammen regieren. Womit Richard und Rudolf Dewes erneut brüderlich vereint sind. Clevere Arbeitsteilung könnte man das nennen: Der eine probiert in der Praxis aus, was der andere sich ausdenkt. Während der SPD-Chef Dewes tatsächlich gern vom „Modellfall Weimar“ schwärmt, hält der Kommunalpolitiker Dewes allerdings überhaupt nichts von der PDS-Offensive seines Bruders.
Das hat nichts mit Selbstbehauptungsversuchen zu tun und auch nicht mit unterschiedlichen politischen Zielen. Beide reden viel über „Gerechtigkeit“, „Solidarität“ und „Verteilung“, ihr Tagewerk widmen sie erklärtermaßen „den kleinen Leuten“. Sie kommen selbst aus einfachen Verhältnissen; Vater Bergmann, Mutter Hausfrau, es gibt zwei weitere Geschwister. Die beiden, die in die Politik gegangen sind, sagen mit größter Selbstverständlichkeit „Herkunft Arbeiterklasse“.
Honecker würde klatschen, Lafontaine zumindest nicken; das Saarland muß ein Gewächshaus für Sozialisten sein. Die Dewes- Brüder aber halten nichts von irgendwelchen „Traditionslinien“ und sagen über ihren Aufstieg: „Alles Zufall“. Wenn das zutrifft, dann auf ihr PDS-Problem, denn Schuld an allem ist der Winter.
Eines Tages stand Rudolf Dewes, der Dezernent, auf der Straße und kämpfte gegen vereiste Autoscheiben. Neben ihm hatte eine Frau die gleichen Sorgen. Er half ihr, die beiden kamen ins Gespräch, spätere Heirat eingeschlossen. Sie ist aus Thüringen, war zu DDR-Zeiten in Kirchenkreisen aktiv und hat es beruflich nicht leicht gehabt. Rudolf Dewes sagt, daß sie sich nie Bürgerrechtlerin nennen würde, aber wenn der Begriff schon mal in der Welt ist, kann er gut beim Sortieren helfen. Die Sehnsucht seiner Frau nach PDS- Ministern jedenfalls hält sich sehr in Grenzen. Er ist auf ihrer Seite: „Wir sollten respektieren, daß sich die Erfahrungen der Vergangenheit nicht so einfach durch aktuelle Tagespolitik verdrängen lassen.“ Und da die PDS auch nicht den Eindruck mache, als ob sie sich von Leidensgeschichten aus DDR-Zeiten besonders rühren läßt, ist er gegen den Kurs seines Bruders.
Bei den obligatorischen Familientreffen wird also heftig diskutiert. Alle vier Wochen versammelt sich der Dewes-Clan im Saarland, die Eltern leben noch dort, Richards Frau und Kinder sind noch in der alten Heimat und Rudolf fährt nach wie vor gern hin. Dienstlich gehen sich die beiden Brüder aus dem Weg, Richard ist zwar als Innenminister auch für die Kommunalaufsicht zuständig, doch wenn es etwas zu besprechen gibt, werden Stellvertreter geschickt. Die PDS-Debatte können sie nicht so elegant delegieren. Vor allem die Frau von Rudolf Dewes läßt nicht locker. Den Dezernentenposten ihres Mannes in Weimar hält sie gerade noch für vertretbar. Auch er selbst meint: „Das ist eine andere Kategorie.“ Erstens werden in Kommunen keine Gesetze gemacht. Zweitens läßt sich in einer Stadt leicht klären, wer was früher war.
Trotz aller Einwände aus der Verwandtschaft, Richard Dewes, der SPD-Chef, bleibt bei seiner Formel: „Eine Zusammenarbeit mit der PDS ist denkbar.“ Zu sehr plagt sich die SPD in der Großen Koalition. Was da für seine Partei herauskommt, kann man in Berlin und Stuttgart studieren.
Zielsicher hat Richard Dewes daher Themenbereiche besetzt, die ihn garantiert immer wieder in die Schlagzeilen bringen. Seine PDS-Thesen sind die spektakulärsten, aber längst nicht die einzigen Vorstöße. Mal will er den Verfassungsschutz abschaffen, mal kündigt er das Ende des Beamtentums an, mal fordert er einen ostdeutschen Kanzlerkandidaten. Die Woche hat ihm passenderweise den Ehrentitel „Rebell aus den Kurzmeldungen“ verliehen. Seine Medienpräsenz im vergangenen Jahr war jedenfalls beachtlich; seine Popularität in Thüringen stieg enorm. CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel hat inzwischen aufgehört, seinen sozialdemokratischen Innenminister zu loben. Am Anfang konnte er sich das noch leisten, inzwischen hat Richard Dewes sich längst zum künftigen Herausforderer gemausert.
Im Frühjahr 1996 übernahm er den SPD-Vorsitz. Er beerbte ausgerechnet den Mann, der ihn nach Thüringen geholt hat. Grund des Streits: wiederum die PDS. Gerd Schuchardt, inzwischen Wissenschaftsminister, war gegen jede Art von Koalitionsplanspielen. Richard Dewes' Strategie heißt „Entzauberung“. Er ist auf den Tag gespannt, an dem „eine PDS-Sozialstadträtin die Schließung von Kindergärten bekanntgeben muß“. Damit nicht genug. Die SPD soll die Vokabelliste der PDS verinnerlichen und den Ostmenschen etwas von „Identität“, „Eigenständigkeit“ und „Selbstbewußtsein“ erzählen. Da der Gysi-Truppe in Thüringen ein eigener Stimmungsmacher fehlt, versucht Richard Dewes den Aufmunterer vom Dienst zu spielen. Die Sache ist nicht aussichtslos, seine „Ihr- seid-anders-Ihr-seid-toll“-Reden kommen an.
Der Mann kann Leute begeistern. Ursprünglich wollte er mal Missionar werden, das Elternhaus war streng katholisch. Im 68er Rausch landete er bei den Jusos. Nach dem Theologiestudium machte er dann noch einen Jura- Abschluß. Er war Richter, bevor er Berufspolitiker wurde. Viel mehr als Staatssekretär wäre er im Westen nicht geworden, im Osten ist nun aber sogar der Regierungschef drin. Nach der jetzigen Gemengelage braucht er dafür die PDS, daher sein Eifer.
Wenn er den großen Durchbruch schafft, ist Richard Dewes tatsächlich der nächste kleine, machtbewußte Saarländer, der sich anschickt, den Sozialismus zu retten. Rudolf Dewes, der Dezernent, mag es hingegen wieder mal eine Nummer kleiner: „Wenn mein Bruder Ministerpräsident wird, ziehe ich mich zurück. Mein privates Glück reicht mir völlig.“ Womit immerhin klar ist, daß sie zwar beide nach Thüringen kamen, aber aus völlig verschiedenen Gründen: Der eine wollte nur sein Leben ändern, der andere am liebsten die Welt. Irgendwie sind sie sich dabei in die Quere gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen