: „Dann ist die Stimme nackt“
Etwa 500 SprecherInnen stehen im Medienstandort Hamburg für Nachrichten, Dokumentationen oder Synchronarbeit bereit ■ Von Heinz-Günter Hollein
Peter Buchholz' rechte Hand schwebt, den Daumen gegen die Fingerspitzen gepreßt, im dunklen Raum rhythmisch auf und ab. Genau 28 Sekunden hat der Schauspieler Zeit, die Eröffnungssequenz zu einer 80minütigen Fernsehdokumentation über das Französische Fernost-Institut zu sprechen. Vor ihm eine Viertelseite Text, den er nur mit seiner Stimme zu einer atmosphärischen Mischung aus Historie, Exotik, Kultur und journalistischer Präsentation gestalten muß. Nach drei Durchläufen „sitzen“die Sätze bildgenau. Toningenieur, Regisseur und Redakteurin haken die Passage auf ihren Manuskripten ab, der erste von 36 „Takes“ist „gekauft“.
Buchholz ist eine der paar Dutzend „Stimmen“, von denen es in der Branche heißt, daß sie einen Film „tragen können“. Der Arbeitsplatz: ein schwarzbezogener Tisch auf schwarzem Teppichboden, an Wänden und Decke schwarze Styroporwaben zur Schallisolierung. Gegenüber der Monitor mit eingeblendeter Digitaluhr und – direkt vorm Gesicht – das Mikrofon. Das Arbeitsfeld: Magazinbeiträge, Dokumentationen, Features, Nachrichten, Synchronarbeit. Die Arbeitsbezeichnung: freie Sprecher oder – im Amtsdeutsch – „unständig Beschäftigte“. Die Arbeitgeber: Sendeanstalten wie der NDR, Spiegel-TV oder eines der freien Studios, die als Subunternehmer Beiträge für die Fernsehsender bearbeiten.
Hamburg ist neben Berlin und München die dritte Sprechermetropole in Deutschland. Auf etwa 500 schätzt Peter Just von der Synchronabteilung des Studio Hamburg die Zahl derer, die in der Hansestadt bereitstehen, um gegen Gage ihre Stimme abzugeben. „Gut gebucht“seien davon allerdings vielleicht zehn Prozent, schränkt Achim Schülke ein, der Mitte der 80er „nach vier harten Jahren“den Einstieg in die Hamburger Sprecherszene geschafft hat. Der heute 53jährige beschloß damals, das Bühnenwanderleben zwischen Zürich und Kiel zugunsten der Familie aufzugeben und trat vors Mikrofon. „Alles was ich dafür mitbrachte, war eine naive Lust, in eine Figur hineinzukriechen“, beurteilt er seine damalige Mikrofontauglichkeit.
Ausgefeilte Mimik und die große Geste sind nicht gefragt, wenn das Rotlicht den Einsatz gibt, und das theatralische Heben und Senken der Stimme quittiert der Tonmeister mit resigniertem Fluchen. Vorbei sind auch die Tage, als sich „beim Funk“drei alte Bühnenhasen bei Kaffee und Cognac ums Mikrofon versammelten und unter Tassenklappern und gelegentlichem Schlürfen den neuesten Siegfried Lenz vom Blatt lasen. Kaffee bildet einen Ölfilm am Gaumen, der hörbare Schmatzer zur Folge hat – von den Auswirkungen des Cognacs auf die Beschwingtheit des Vortrags ganz zu schweigen.
Sprecher wie Achim Schülke und Peter Buchholz haben die Regeln und Kniffe ihrer Profession in der Praxis gelernt. „Und nach zehn Jahren“, meint Buchholz lapidar, „wird man dann richtig gut.“Damit meint er nicht nur, alle Endungs-“Gs“„sauber reinzubringen“oder die gefürchteten „Ps“am Wortanfang ohne Explosivgeräusch von den Lippen zu lassen, sondern vor allem, sich vom technischen Umfeld zu lösen, „bis man ganz frei ist für die Möglichkeiten der eigenen Stimme“. Ähnlich sieht es Alfred Rücker, der letzte festangestellte Sprecher des NDR: „Die Ehrlichkeit der Ansprache, alles andere ist erlernbar.“
Sich dem Mikrofon preiszugeben, treibt auch gestandenen Bühnenschauspielerinnen wie Ulrike Johannson den Schweiß auf die Stirn. „Man sitzt vor dem Ding wie das Kaninchen vor der Schlange,“beschreibt sie den klassischen Sprecherstreß. „Man weiß nur: Im nächsten Moment ist deine Stimme nackt.“Ulrike Johannson wollte zum Theater, „weil ich spielen wollte, und sonst gar nichts“. Trotzdem begreift sie das „reine“Sprechen nicht als Begrenzung, sondern „als Erweiterung,“als „einen ganz neuen und eigenen Beruf“.
Eine willkommene Ergänzung ist das Mediensprechen nicht zuletzt auch in finanzieller Hinsicht. Zwischen einem Dreh als Zeugin im „Großstadtrevier“und einer freien Produktion auf Kampnagel ist für 70 Prozent aller SchauspielerInnen in Hamburg der Auftritt beim Arbeitsamt Routine. Torsten Statz vom NDR-Besetzungsbüro weiß: „Die Bewerbungen liegen erheblich über der Nachfrage.“In Hamburg, sagt Buchholz, hätten Seiteneinsteiger aber immer noch ihre Chance. „Allerdings“, merkt er spitzbübisch an, „empfiehlt man natürlich lieber eine junge Kollegin als einen möglichen zukünftigen männlichen Konkurrenten.“
Sprecherinnen sind trotzdem nicht auf Rosen gebettet. Historische Dokumentationen und wissenschaftliche Features werden immer noch überwiegend von Männern kommentiert, auch wenn der Frauenanteil in den zuständigen TV-Redaktionen den der Kollegen mittlerweile überwiegt. „Ein weniger guter Sprecher findet deshalb eher Arbeit, während erstklassige Kolleginnen sich auf die Füße treten“, ärgert sich die Schauspielerin Ursula Vogel.
Die lebhafte Rothaarige kennt die Hamburger Sprecherszene seit den sechziger Jahren und ist für alle Termindisponenten und Aufnahmeleiter „die Vogel“, ein fester Begriff und eine verläßliche Adresse. Sie kennt allerdings auch die weniger angenehmen Seiten des Berufs. „Alle paar Monate mache ich meine Runde“, lautet der Vogelsche Euphemismus für das freundliche Erinnern an ausstehende Gagen. Manchmal half auch das nichts, denn in der Goldgräberstimmung des frühen Privatfernsehens war manches schnell gegründete „Kellerstudio“schon wieder Pleite ehe die Mahnfrist verstrichen war.
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