Hammer und Sichel, mit Flügeln gehörnt

Tanz den Pasolini: In der Volksbühne hat Johann Kresnik, von „Teorema“ inspiriert, das „Gastmahl der Liebe“ inszeniert – mit kaltem Bedauern erzählt er von der Leere des bourgeoisen Lebens und der Ungewißheit der Selbstfindung  ■ Von Petra Kohse

Die Himmelspforte ist ungefähr in Reihe 15. Dort sitzt der Pianist Claudio Frassetto. Er trägt zartfederne Flügelchen auf dem Rücken und hält sich an den Tasten fest – gerade so, als ob er gewärtigen müßte, irgendwann doch noch den langen, schmalen Steg heruntergeschickt zu werden, was er sicher nicht will. Denn unten, auf der Bühne, ist die Hölle: das Leben.

Das Leben teilt sich in das Leben der Reichen und das Leben der Armen. Die Reichen verbergen sich anfangs hinter einer brüchigen Tapete, vegetieren später auf ganz hohen Barhockern zwischen Perlenketten und falschen Haarteilen vor sich hin, die Armen buckeln mit Spülhandschuhen am Boden herum, dazu ertönen qualvoll verzogene Bruchstücke aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“.

Zum Leben gehört aber auch eine gelbe Lacktasche mit einem roten Emblem: Hammer und Sichel, denen wie Hörner stilisierte Flügel aufsitzen. Fröhlich trillernd rast der Post- und Götterbote (Marcelo Omine) mit dieser Tasche durch die Volksbühnen-Reihen über den Himmelssteg hinab ins Lemurenreich und bringt einen Brief, der Gutes und Schreckliches verheißt: Ein Gast kommt.

Der 57jährige österreichische Choreograph Johann Kresnik hat in der Volksbühne ein „Gastmahl der Liebe“ inszeniert, nach Pasolinis Film und Roman von 1968. Wie immer bei Kresnik ist alles sehr deutlich. Himmel und Erde, Reich und Arm sind genau getrennt, das Mystisch-Religiöse und die Gesellschaftskritik kommen in plakativen Bildern vorbei.

In „Teorema“ bringt die Ankunft eines gottähnlichen Jünglings eine Fabrikantenfamilie aus dem Lot. Alle erkennen in seiner Umarmung, wie leer ihr Leben bisher war, und kommen nach seiner Abreise mit den alten Rollen nicht mehr klar. Der Wahnsinn winkt. Einzig das bäuerliche Dienstmädchen verkraftet die Erfahrung als religiöse Erleuchtung.

Kresniks Gast ist Daniel Chait. Mit divenhafter Kälte nähert er sich der Familie über den Steg, trägt seinen roten Pagenkopf hocherhoben, krempelt die Hose über die Waden und läßt seine Füße mit den schwarzlackierten Nägeln in der Luft schlängeln, als seien sie Tempeltänzer in eigenem Auftrag.

Eine ähnlich aufs Archetypische zielende Bewegungssprache entwickelt auch Christina Comtesse, die sich als Erzengel Gabriel später ins Gemenge mischt. Federnd trommelt sie geheime Botschaften auf ihrem Körper, eine Tätigkeit, aus der sie gleichzeitig Schwungkraft zu schöpfen scheint. Luzifer (Mauricio Ribeiro) hingegen, der Gefallene, wirkt bloß wie ein Go-Go-Boy mit seinem geweißten, nackten Körper und den riesigen roten Flügeln, mit denen er sich, aus dem Bühnenhintergrund kommend, über den Steg wälzt.

Dies also die Mächte des Zwischenreichs, dazwischen die Initiationserlebnisse der Familie, klavieruntermalt. Einen schönen Effekt macht dabei ein großer Spiegel, den Penelope Wehrli über der sonst leeren Bühne herabgelassen hat, und der das bewußte Leben der Familie vom Unbewußten trennt (alle treten doppelt auf). Wenn sich der Spiegel dreht und wendet, wirken die Liebesspiele mit dem Gast darin wie von einer Kamera umkreist. Ruhig und angespannt vollziehen sich die Szenen, manchmal wird es poetisch, einige Male sogar witzig, meist aber ist alles furchtbar pathetisch. Auf den Schultern Luzifers zerreißt sich der Vater (Osvaldo Ventriglia) das Hemd, Münder werden rot verschmiert, Brüste entblößt, Toupets heruntergerissen, rohe Eier zerbissen, Äpfel geschält, halbgekaut wieder ausgespuckt und im Dutzend an die Wände geknallt – tanz den Pasolini!

Wenn die Familie am Ende gerupft und befreit aus der Begegnung mit dem Gast hervorgegangen ist und auch die Rollendoubles (frühere Ichs) angemessen gezaust hat, wenn der Vater den erschrockenen Arbeitern seine Fabrik vermacht und nackt in die Tiefe der Bühne wankt, wo das Dienstmädchen auf einer brennenden Treppe steht (mystische Befähigung des Bäuerlichen), wenn also die Dekadenz der Bourgeoisie (industrielle Zivilisation) enttarnt und selbige in die Ungewißheit entlassen ist, muß man schon sagen: Kresnik hat es nicht mit Wut, sondern mit kaltem Bedauern erzählt.

Warum aber erzählt er es überhaupt? Die Klassengegensätze von vor 30 Jahren gibt es so nicht mehr. Müßiggang ist heute kein Privileg der Reichen mehr, im Gegenteil. Und die Suche nach dem wahren Selbst ist volkssportartig so gut organisiert, daß keiner eine Chance hat, dabei in die Wüste zu gelangen. Auch daß am Ende ein Arbeiter mit seinem eigenen Zellophanumhang an den Steg gebunden wird, womit wohl die Verhütung menschlichen Kontakts erwähnt werden soll, katapultiert Kresniks Inszenierung nicht auf die Höhe der aktuellen Diskussion.

„Beklemmend ist's, von verbrauchter Liebe zu leben“, steht auf italienisch über der Bühne, ein Pasolini-Zitat. Beklemmend auch, überholte Erkenntnisse beschworen zu sehen.

„Gastmahl der Liebe“ nach Pasolini. Inszenierung und Choreographie: Johann Kresnik. Bühne: Penelope Wehrli. Musik: Kurt Schwertsik. Wieder am 1./4.3., 19.30 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz