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Demokratie in Gefahr?

■ Die neue Arbeitslosenstatistik wird es zeigen: 4,8 Millionen Menschen sind momentan ohne Job - neuer Nachkriegsrekord

Bonn/Berlin (AFP/taz) – Offiziell sollte die neue Arbeitslosenstatistik erst am kommenden Donnerstag in Nürnberg bekanntgegeben werden. Doch was Experten fast geschäftsmäßig schon vorab vermuteten, ist nun auch offiziös durchgesickert: Nach einem Bild am Sonntag-Bericht waren im Februar 4,8 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Würde diese Zahl sich – wie erwartet – bestätigen, betrüge die Quote der Erwerbslosen 12,5 Prozent – ein neuer Nachkriegsspitzenwert.

Noch einen Monat zuvor hatte die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit die Zahl von 4,66 Millionen Arbeitslosen bekanntgegeben – schon diese Zahl beschleunigte vor Monatsfrist den Willen des CDU/ CSU-Regierungsteils, sich auf Gespräche mit der oppositionellen SPD einzulassen. Die neuen Zahlen, offiziell dann bestätigt, werden weiteren Verhandlungen der „Großen Koalition“ Auftrieb geben.

Als erster reagierte Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) auf die Zahlen: Er erwartet nun von den Arbeitgebern, daß sie Neueinstellungen zusagen, wenn die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen auf den Inflationsausgleich beschränken. Im Deutschlandfunk sagte Blüm gestern, er verstehe die Arbeitnehmer, die nach einer „Gegenleistung“ für Lohnzurückhaltung fragten. Die Unternehmer hätten auch immer beklagt, daß der Kündigungsschutz Neueinstellungen in den kleinen Betrieben behindere. Nun, da die Regierung den Kündigungsschutz gelockert habe, stünden diese Arbeitgeber in der „Beweispflicht“. Blüm sagte, die Arbeitslosigkeit müsse mit flexibleren Arbeitszeitformen bekämpft werden. Er verwies darauf, daß in Deutschland Millionen von Arbeitnehmern gerne eine Teilzeitstelle wollten, aber keine bekommen.

Dieter Schulte, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), sagte dem Magazin Focus, neue Arbeitsplätze könnten durch die Halbierung der Überstunden, mehr Teilzeitarbeit und die „durchgängige Verwirklichung der 35-Stunden-Woche“ geschaffen werden. Schulte warf den Arbeitgebern vor, trotz aller Beteuerungen nicht an einer Vollbeschäftigung interessiert zu sein. Weil sie bei Vollbeschäftigung keinen Druck mehr ausüben könnten, wollten die Arbeitgeber die derzeitige Lage ausnutzen, um die Kosten weiter zu senken. Wenn es nicht bald zu Neueinstellungen und damit zu einer Verringerung der Arbeitslosenzahlen komme, drohte der DGB-Chef mit einer härteren Tarifpolitik, denn die „Duldungsfähigkeit“ der Gewerkschaften sei erschöpft.

Friedhelm Hengsbach, Sozialethiker an der katholischen St. Georgen-Hochschule in Frankfurt am Main, wertete die wachsende Arbeitslosigkeit als demokratiegefährdend. Wenn Menschen ihrer Lebensperspektiven beraubt und in die Armut gedrängt würden, könnten sie „auf die Idee kommen, den Reichen ihren Reichtum gewaltsam abzunehmen“.

Die Diskussion um die Globalisierung und den sogenannten „Standort Deutschland“ (CDU- Generalsekretär Peter Hintze) hält Hengsbach für eine „Phantomdebatte“. In Wirklichkeit werde der Begriff „Globalisierung“ dazu genutzt, „den gesellschaftlichen Reichtum von unten nach oben umzuverteilen“.

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