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Für einen Dollar in die Zelle

In einer texanischen Kleinstadt finden ein Drittel aller Hinrichtungen in den USA statt. Besucher können eine Gefängnisrundfahrt machen  ■ Aus Huntsville Petra Sevrugian

„Entdecken Sie Huntsville, wo das Abenteuer beginnt!“ lockt der Prospekt und verspricht eine Menge Sehenswürdigkeiten und ein lächelndes „How do you do?“ an jeder Straßenecke. Wer die nordöstlich von Houston gelegene, 28.000 Einwohner zählende Kleinstadt in Texas besucht, dem mag es in der Tat zunächst schwerfallen, sich ihrem oberflächlichen Charme zu entziehen.

Doch hinter den freundlichen historischen Fassaden des Geschäftsviertels verbirgt sich das Zentrum der Todesstrafe in den USA. Hier finden etwa ein Drittel aller Hinrichtungen statt. Texas, einer der 38 Bundesstaaten, die Todesurteile verhängen, gehört zum Todesgürtel der Südstaaten. Wissenschaftliche Untersuchungen ziehen eine direkte Verbindung zwischen Sklavenhaltertum, Lynchjustiz und heutiger Todesstrafenpraxis, die unverhältnismäßig oft Farbige und Mittellose trifft.

Huntsville hat nichts zu verbergen. Man ist stolz auf das texanische Gefängnissystem und stolz auf die sieben Gefängnisse in der Stadt und im Umkreis, in denen mehr als 10.000 Menschen einsitzen. Davon lebt Huntsville, Sitz des „Texas Department of Criminal Justice“ mit insgesamt gut 5.000 Beschäftigten und seit der Staatsgründung Hauptstadt des texanischen Strafvollzugs. Ein Faltblatt, das die Touristeninformation bereithält, lädt ein zu einer Gefängnisrundfahrt nach The Walls, Goree, Wynne, Diagnostic, EllisI (dem texanischen Todestrakt), EllisII und Ferguson. Der Prospekt rühmt die Architektur der zwischen 1849 und 1983 entstandenen Gefängnisse.

Nein, man hat nichts zu verbergen – der große Backsteinbau von The Walls, als ältestes der Gefängnisse die Hauptsehenswürdigkeit und benannt nach der hohen, dicken Mauer, die den Komplex umgibt, steht mitten in der Stadt. Hier saßen schon große Revolverhelden des Wilden Westens ein. Im Südblock wurde 1882 Jesse Evans gefangengehalten, Kumpan von Billy the Kid, doch verbüßte er nur eines von dreißig Jahren Haft, dann konnte er entkommen. Heute kann keiner der mehr als 1.900 Insassen mehr fliehen, und der laute Pfiff zum Appell, jeden Morgen und Abend pünktlich im Umkreis des Gefängnisses zu hören, wird als aufregender Sinneseindruck angepriesen.

Seit 1924 (früher brachte man die Gefangenen in ihre Landkreise zurück, wo sie gehängt wurden) finden in The Walls die Hinrichtungen der in Texas zum Tode Verurteilten statt. An die zwanzig waren es im Jahr 1995, laut Umfragen von achtzig Prozent der Bevölkerung begrüßt. Früher benutzte man den elektrischen Stuhl, auf dem 361 Menschen starben, bis er 1964 ausrangiert wurde. Angeblich konstruierte ein selbst verurteilter, aber später begnadigter Verbrecher die mit dem Kosenamen „Old Sparky“ bezeichnete Tötungsmaschine.

Die zu Tode verurteilten Gefangenen verbrachten oft viele Jahre nur wenige Meter vom Hinrichtungsraum entfernt. Heute wird der Delinquent erst am Tag vor der Exekution nach The Walls verbracht. Und man tötet durch die Giftspritze (seit 1982 mehr als hundert Menschen) – neuerdings auch nicht mehr verschämt um Mitternacht, sondern um sechs Uhr nachmittags.

Nur zwei Blöcke weiter, um den Courthouse Square, lädt Huntsville zu einem „Ausflug in die Vergangenheit“ und zum Bummeln ein. Kleine Geschäfte, Cafés und Antiquitätenläden reihen sich aneinander, hübsche alte Häuser an der Nordseite mit Malereien, die raffinierte Steinmetzarbeiten imitieren, und es gibt Bürgersteige und Bänke. Die Stadt ist berühmt für ihre über 150 Antiquitätengeschäfte, die oft auf mehreren Etagen alles anbieten, vom Fingerhut bis zur Eichentruhe, was sich irgendwie zwischen Junk und Kostbarkeit einordnen läßt. „Don't mess with Texas!“ – Leg dich nicht mit Texas an! – lautet ein beliebter Spruch auf Andenken.

Huntsville ist nicht nur stolz auf seine Gefängnisse, sondern vielleicht noch mehr auf den berühmtesten Sohn der Stadt – Staatsgründer Sam Houston, der Texas 1836 in die Unabhängigkeit von Mexiko führte. Schon am Rande des Highways begrüßt den Besucher die überdimensionale Statue des Generals. Die Universität und ein Museum, Ziele der auf einem zweiten Faltblatt empfohlenen „Historischen Rundfahrt“, tragen seinen Namen. Im Sam-Houston-Park zu besichtigen ist sein erstes bescheidenes Wooland Home von 1848, und ein paar Schritte weiter steht das von späterem Wohlstand zeugende Steamboat House, einem Mississippidampfer nachgebildet, in dem Houston 1863 siebzigjährig starb – den Namen seiner Frau und den seines geliebten Texas auf den Lippen. An jeder Stelle erzählen Tonbänder auf Knopfdruck vom Alltag des Politikers, seiner Frau und der acht Kinder. Geschichte wird als nostalgische Familienidylle verkauft, als ungefährliches, bürgerliches Abenteuer.

Begraben liegt der erste Gouverneur von Texas auf dem Oakwood Cemetery, nicht weit von The Walls. „Die Welt wird Sorge tragen für den Ruhm von Sam Houston“, verspricht der Grabstein. Wer hingerichtet wird oder als Gefangener stirbt und niemanden hat, der für eine anständige Beerdigung sorgen kann, landet auf dem Peckerwood Hill Cemetery – als weitere Sehenswürdigkeit der „Gefängnis-Rundfahrt“ ausgewiesen. Mehr als 900 Bestattungen hat es dort seit 1870 gegeben, über 200 nach einer Exekution. Den Luxus von Grabsteinen gibt es hier nicht. Weiße Holzkreuze mit den Nummern der Gefangenen, ohne Namen, markieren die aneinandergereihten Gräber. Verloren wirken die wenigen, meist künstlichen Blumen an drei, vier Kreuzen.

Folgt der Tourist nun wieder der „Historischen Rundfahrt“, kann er einige der ansehnlichen Privathäuser aus dem 19. Jahrhundert besichtigen, die nach der Stadtgründung 1835 gebaut wurden und – zumeist sorgfältig restauriert – bis heute überlebt haben. Viele der alten Gebäude, so stellt das Faltblatt mit leichtem Bedauern fest, wurden von angemieteten Häftlingen errichtet, was damals leider den Zuzug von Facharbeitern verhindert habe.

Huntsville, als Poststation auf Privatgrund begonnen, präsentiert sich gern als traditionelle Heimstatt für Geschäftsleute, Ärzte, führende Politiker und Militärs, nicht zuletzt auch als Bildungszentrum. Tatsächlich hat die Sam- Houston-Universität ihre Wurzeln in der bereits 1849 gegründeten Juristischen Fakultät des Austin College. Beim Neubau von 1976, so wird stolz berichtet, konnten durch die Mitarbeit von Gefangenen Millionen Dollar eingespart werden.

Wer Huntsville kennenlernen will, darf nicht versäumen, die 12th Street aufzusuchen. Hier wartet für einen Dollar Eintritt das Texas- Gefängnismuseum auf die Besucher, neben The Walls das hervorragendste „Abenteuer“ der Stadt. 1989 eröffnet, präsentiert es in einem kleinen Altbau die Geschichte des texanischen Strafvollzugs und die „Kultur hinter Gittern“, dokumentiert durch Fotos, Reliquien von Bonny und Clyde, eine Sammlung heimlich erstellter Waffen und Ausbruchswerkzeuge von Gefangenen, daneben kunsthandwerkliche Produkte oder die Nachbildung einer Zelle – auf dem Werbefoto des Ortsprospekts lacht ein kleines Mädchen durch die Gitterstäbe. „Gehen Sie hinein, und spüren Sie selbst, was es heißt, ,drinnen‘ zu sein!“ lädt das Museum ein.

Höhepunkt der Ausstellung ist zweifellos „Old Sparky“, der alte elektrische Stuhl, bewundert von den Besuchern, die plaudernd und oft amüsiert dem Rundgang durch das Museum folgen. Ein Informationsblatt neben der Vitrine beschreibt nüchtern und detailliert die derzeitige moderne Hinrichtungsmethode durch die Giftspritze. Irritation scheint allein europäische Betrachter zu überkommen. Anscheinend hat man hier wirklich nichts zu verbergen.

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