Eine Kaffeefahrt nach Europa

Im Rollstuhl erlebt Dutenhofens Spielleiter Dotzauer, wie sich der Zweitligist trotz gestriger Pokalfinalniederlage dem Handball-Europacup nähert  ■ Von Jörg Winterfeldt

Hamburg (taz) – Der Mann im Rollstuhl hatte seine Kladde längst zugeschlagen, als die beiden Schiedsrichter das Überraschungs- Pokalhalbfinale zwischen den Zweitligisten Bad Schwartau und Dutenhofen/Münchholzhausen abpfiffen. Der Favorit hatte sich vorzeitig ergeben, ungefähr nach einer Dreiviertelstunde, als er den Mittelhessen gestattete, in einer Zwei-Spieler-Unterzahl-Situation einen Ein-Tor-Rückstand in die Führung umzuwandeln.

Der Mann im Rollstuhl hatte viel nachgedacht während der letzten Tage. Über grundsätzliche Dinge vor allem, über die wahren Werte in seinem Leben – die Familie, die Freunde, die Gesundheit, all das, was einem vor lauter Gewohnheit oft erst gegenwärtig wird, wenn man es fast verloren hat. Natürlich hat Rainer Dotzauer aber auch über Handball nachgedacht, obwohl er seinen Schlaganfall vor gut drei Wochen mitten in der Partie seiner Dutenhofener in Solingen gerade der Belastung durch den Sport zu verdanken hat.

So viel hat er über die Pokal- Endrunde nachgedacht, daß die Ärzte der Reha-Klinik Braunfels ein Anwesenheitsverbot in Hamburg gar für ein größeres gesundheitliches Übel hielten als die Genehmigung der Strapaze.

Da hockte Dotzauer dann am Spielfeld, die linke Körperhälfte noch gelähmt, das Auge geschwollen, die Braue mit einem Pflaster verklebt und durfte gerührt den größten Erfolg in der Vereinsgeschichte miterleben. Mit einem 22:20-Sieg gegen Bad Schwartau zog die mittelhessische Spielgemeinschaft zweier Wetzlarer Stadtteile in das Finale ein und damit auch wohl als erster Zweitligist überhaupt in den Europapokal der Pokalsieger. Zwar unterlag man gestern nachmittag dem TBV Lemgo 23:28, doch der wird als klarer Bundesligatabellenführer die deutsche Meisterschaft kaum noch verspielen und dann die europäische Champions-League vorziehen. Überhaupt hat man auch gegen das nationale Topteam bis zum 17:18 prima mitgehalten.

5.600 Einwohner haben Dutenhofen und Münchholzhausen zusammen, etwa ein Zehntel davon hat das Team begleitet nach Hamburg. 1.500 mitgereiste Anhänger unterstützten Lemgo. Von den Dutenhofern kamen fast alle bei Dotzauer vorbei, mit Glück- und Genesungswünschen – hundemüde von der langen Busfahrt, die morgens um sechs anzutreten war, aber jubelnd, schluchzend, glücklich. „Der Halbfinal-Sieg“, sagt Dotzauer deswegen, „bedeutet viel für meine gesundheitliche Perspektive: Jetzt weiß man, wofür man sich so gequält hat.“ Selbstverständlich erleichtere er auch „das wirtschaftliche Überleben“ des Vereins.

Vor vier Jahren hatte die Spielgemeinschaft Dotzauer zurückgeholt. Als sportlichen Leiter offiziell, de facto eher als Konkursverwalter mit Trainer-Know-how. Eine Saison zuvor hatte der Klub, von Ambitionen getrieben, viel Geld investiert, um aufzusteigen in die erste Bundesliga. Nach dem Scheitern in der Relegationsrunde machte der verpaßte Ruhm dem Blick auf 600.000 Mark Schulden Platz. „Wir haben früh gelernt, brutto zu rechnen und sind damit einigen Vereinen voraus“, bekundet der fiskalische Betriebsprüfer Dotzauer bitter.

Etwa zwei Drittel ihrer Verbindlichkeiten hat der Tabellendritte der Zweiten Liga (Süd) inzwischen abgebaut, nicht zuletzt dank der etwa 70.000 Mark, die jeder Finalrunden-Teilnehmer in Hamburg einstecken darf, sowie zusätzlicher Werbegelder von fünf Sponsoren, die eigens wegen des Erfolges ihr Logo noch flink auf die Spielkleidung drucken ließen.

Seinen Coup hat der Außenseiter von Hamburg präzise eingefädelt, akribisch der vom Co- zum Cheftrainer aufgerückte Enyi Okpara die Mannschaft präpariert auf den Gegner Schwartau und das Drumherum. Am Freitag abend, direkt nach der Ankunft, waren sie in der Alsterdorfer Sporthalle die engen Kabinengänge auf und ab gesprintet, um zu simulieren, daß den Zweitligisten vor ihrer Partie keine Aufwärm- und Einspielmöglichkeit in der Halle zur Verfügung stehen würde.

Als die ersten mitgereisten Fans das Treiben mit der Bierflasche in der Hand verwundert begutachteten, äußerte der Nigerianer Okpara mit hessischem Akzent lautstark seine Bedenken, „daß die das hier zur Kaffeefahrt machen“. Wie die Kollegen aus Schwartau haben die Mittelhessen den Erstligisten auf der Dienstreise zudem eifrig Öffentlichkeitsarbeit demonstriert. Während sich der große Lemgoer Meistertrainer Juri Schewzow nach dem 27:23 über Großwallstadt einmal mehr alle Mühe gab, mit seinen dreieinhalb inhaltsleeren Standard-Lobsätzen für gute wie schlechte Spiele jeden noch so motivierten Fragesteller seines Interesses am erfolgsverwöhnten Provinzverein zu berauben, bevorzugten Okpara und seine Wetzlarer die geduldige Haltung.

„Ich hab vor einer Woche geheiratet“, ließ irgendwann der Erfolgstrainer nur entsetzt wissen, „seitdem habe ich meine Frau nicht mehr gesehen.“