: „Es gibt noch Ermittlungsbedarf“
■ Von der Kripo geschnitten, von Nazis bedroht: Ernst Achilles eröffnet den Reigen der Gutachter im Lübecker Brandprozeß
Die Brandgutachter haben das Wort. Mit dem Vortrag des Frankfurter Sachverständigen Ernst Achilles ging der Lübecker Brandprozeß um den Libanesen Safwan Eid gestern in seine voraussichtlich letzte entscheidende Phase. Ob der Ausbruchsort des Feuers, das zehn Flüchtlinge das Leben kostete, mit Hilfe der Experten ermittelt werden kann, ist mehr als fraglich. Wichtige Beweisstücke wurden nicht asserviert, die Expertisen der Gutachter könnten zu unterschiedlicheren Ergebnissen nicht kommen.
Achilles, der dem Landgericht am kommenden Mittwoch seine „Brandverlaufssimulation“präsentieren will, zeigte anhand zahlreicher Fotos und Videoaufnahmen von der Brandruine erstmals vor Gericht auf, daß das Feuer im hölzernen Vorbau – wo die Verteidigung den Ausbruch des Feuers vermutet – die größten Schäden angerichtet hat. Mehrere besonders starke Einbrennungen habe er im Fußboden direkt unter der Eingangstür des Vorbaus und unterhalb eines Briefkastens direkt neben der Tür gefunden.
Wesentlich „geringere Abbrandtiefen“machte der Gutachter hingegen im ersten Stock ausfindig, wo die Staatsanwaltschaft den Ausbruch des Feuers vermutet. Auch ein Loch oberhalb des von den Anklägern zum Tatort erhobenen Flurbereiches könne nicht Resultat eines „Durchbrandes“sein. Denn in dem Badezimmer, das oberhalb des angeblichen Durchbrandes lag, seien die Tapeten, ja sogar eine Klorolle blütenweiß gewesen. „Das hätte mit absoluter Sicherheit weg sein müssen“, wenn das Feuer diesen Weg gewählt hätte, verwarf der Frankfurter Experte gestern das Brand-Szenario der Staatsanwaltschaft.
Der 68jährige Brandschutzexperte kritisierte außerdem scharf die Ermittlungsarbeit von Feuerwehr und Staatsanwaltschaft. Die Kripo hätte „jede Zusammenarbeit“mit ihm als vom Gericht bestellten Sachverständigen „schlicht verweigert“. Wichtige Beweismittel hätten sich noch Monate nach dem Feuer nicht in der Asservatenkammer, sondern im Brandschutt befunden, andere seien ganz verschwunden. Zudem hätte die Kleidung eines im Vorbau unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Flüchtlings „untersucht werden müssen“, um Aufschlüsse über Branddauer und -temperatur zu erhalten. Achilles: „Es gibt noch immer zusätzlichen Ermittlungsbedarf.“
Daß die Analysen des Sachverständigen nicht nur den Staatsanwälten gegen den Strich gehen, darauf wies Achilles in einem Nebensatz hin. Er habe in den vergangenen Monaten „mehrere Morddrohungen“gegen sich und seine Familie erhalten, die auf rechtsradikale Urheber schließen ließen. Der Inhalt sei dermaßen schlimm, daß er den Wortlaut dem Gericht aber „lieber vorenthalten“wolle.
Marco Carini
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