: Keiner geht in die „heißen Blocks“ – zu gefährlich
■ Die Hochhaussiedlungen im Pariser Osten lösen Ängste aus: Immer mehr Bewohner klagen über Diebstähle, Drogenhandel, Ruhestörung und Straßengangs
In dem Stadtplan an der Wand des mobilen Pizzadienstes stecken lauter rote Fähnchen. Im Osten von Paris sind sie besonders zahlreich. „Das sind heiße Wohnblocks“, erklärt der Pizzabäcker, „zu gefährlich für meine Leute.“ Die Kundschaft aus den Rote- Fähnchen-Siedlungen informiert er bei der Bestellung am Telefon, daß sie ihre Pizza unten an der Straße abholen müssen. Seine Jungs würden keinesfalls in die „heißen Blocks“ gehen.
Viele „heiße Blocks“ im Pariser Osten und in den Banlieues ganz Frankreichs stammen aus den sechziger Jahren. Für ihre Erstbezieher, Franzosen aus der Provinz und Zuwanderer aus den verlustig gegangenen Kolonien in Nordafrika, waren sie der reine Luxus. Sie hatten Innenklos, Badezimmer, Zentralheizung, und dazu war die Miete erschwinglich. Daß sich die Blöcke, ganz egal ob sie in die Höhe oder in die Breite gehen, zum Verwechseln ähnlich waren, störte angesichts derart vieler Vorteile und einer drängenden Wohnungsnot nur wenige.
Drei Jahrzehnte später sieht man den Sozialbauten an, wie schnell und billig sie entstanden sind. Balkons stürzen ab, Aufzüge und Fenster klemmen, und aus den Müllschluckern marschieren die Kakerlaken. Hinzu kommt, daß die Zeit der Vollbeschäftigung vorbei ist. Die einst stolzen Mieter sind heute die am schwersten von der Krise Betroffenen.
Der Pizzabäcker hat immer erst „Zwischenfälle“ abgewartet, bevor er die roten Fähnchen in seine Karte steckte. Er hat jede Menge Anekdoten von ausgeraubten und zusammengeschlagenen Pizzalieferanten und geklauten Mopeds auf Lager. Ängste lösen die Hochhaussiedlungen aber nicht nur bei der Außenwelt aus. Auch im Innern brodelt es. Zwar fühlen sich die meisten Banlieusards in ihren Siedlungen so zu Hause wie andere Franzosen in ihren Dörfern, doch klagen gleichzeitig immer mehr Bewohner französischer Hochhaussiedlungen über Drogenhandel, Autodiebstähle, nächtliche Ruhestörung und Straßengangs.
Angesichts der Konzentration von Problemen haben die Kommunalpolitiker zu radikalen Mitteln gegriffen. In Les Minguettes bei Lyon und in La Courneuve bei Paris wurden Wohntürme gesprengt, um das städtebauliche und soziale Klima zu verbessern. In Vitrolles bei Marseille ist die komplette Innenstadt videoüberwacht. Und in den „heißen Vorstädten“ des bretonischen Rennes patrouillieren zwischen 21 und 4 Uhr „Nachtansprechpartner“, die in den kleinen und großen Konflikten vermitteln sollen.
Über das Ausmaß der Unsicherheit gibt es nur Spekulationen – und subjektive Wahrnehmungen. Die offiziellen Statistiken helfen nicht viel weiter, um die Delinquenz zu messen. Bei Bagatellen verzichten die Franzosen in der Regel auf Hilferufe bei der Polizei – sei es aus traditionellem Mißtrauen gegen Uniformierte, sei es aus der Erfahrung heraus, daß die eh nichts tun können.
Politisch hat zuerst die rechtsextreme Front National den hohen Wert des Unsicherheitsgefühls erkannt. Seit Jahren nutzt sie es für ihre Propaganda aus, und ihre Bürgermeister reduzieren konsequent die Sozialarbeiterstellen, um gleichzeitig das Polizeipersonal aufzustocken. Nun ziehen auch die anderen Parteien nach. Von den Konservativen über die Sozialisten bis hin zu den Kommunisten haben alle die „Sicherheit“, zumal die in den Vorstädten, zum Thema erklärt. Dorothea Hahn, Paris
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