Die Stunde der Geschichtsfälscher

■ Zweifel an der Echtheit dieses Bildes konnten aber nicht erhärtet werden

Genf (taz) – Der Krieg in Bosnien ist beendet. Zumindest vorläufig. Doch die juristische Aufarbeitung und Ahndung der in diesem Krieg verübten Verbrechen steht auch vier Jahre nach Gründung des Den Haager UNO-Tribunals immer noch am Anfang. Das ist die Stunde der Geschichtsfälscher und Revisionisten.

Einer von ihnen ist der Frankfurter Thomas Deichmann, nach eigener Darstellung „freier Journalist“ und „nur der Wahrheit verpflichtet“. In einem Artikel, den er seit Ende Dezember 96 zahlreichen deutsch- und englischsprachigen Printmedien anbot, bezichtigt Deichmann vor allem die britische Fernsehgesellschaft Independent Television News (ITN) der „skandalösen Täuschung“. Am 5. August 1992 hatte ein ITN-Team den abgemergelten Muslim Fikret Alić und andere Gefangene hinter Stacheldraht im bosnisch-serbischen Internierungslager Trnopolje gefilmt. Das Bild ging um die Welt und galt seinerzeit als erster optischer Beweis für bosnisch-serbische Internierungs-, Folter- und Todeslager. Auf der Basis von Zeugenaussagen hatte der US- Journalist Roy Gutman bereits am 2. August im New Yorker Newsday über die Existenz derartiger Lager berichtet. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und das US-Außenministerium waren zwar seit Mai 1992 informiert, Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand seit seinem Besuch bei seinem bosnischen Amtskollegen Izetbegović Anfang Juli. Doch sie hielten ihr Wissen geheim.

Dem Den Haager Tribunal liegt erdrückendes Beweismaterial für die Vergewaltigung, Folter und Ermordung von Gefangenen im Lager Trnopolje vor — überwiegend Muslime, aber auch Kroaten und Serben. Nach Berichten von Überlebenden ist der Lagerkommandant Slobodan Kuruzović allein für die Erschießung von 250 Häftlingen verantwortlich. In dem Lager, das die bosnischen Serben auf dem Gelände einer ehemaligen Grundschule und eines Sportplatzes eingerichtet hatten, befanden sich ständig rund 5.000 Gefangene.

Laut Deichmann war Trnopolje jedoch kein Internierungslager, sondern ein „Flüchtlings- und Transitlager“, dessen Insassen sich dort „freiwillig“ und ohne Zwang aufgehalten hätten und gut behandelt worden seien. Deichmanns einziger „Beweis“ für diese Behauptung: Das ITN-Team habe seine Bilder von innerhalb eines kleinen umzäunten Areals auf dem Lagergelände geschossen. Das Lager selber sei jedoch „nicht umzäunt“ gewesen, und seine Insassen hätten sich „frei bewegen können“. ITN hat dieser Darstellung ebenso entschieden widersprochen wie der Korrespondent des britischen Guardian, Ed Vulliamy, der das ITN-Team am 5. August 92 nach Trnopolje begleitet hatte. ITN und Vulliamy bestätigen zwar die Existenz des eingezäunten Areals. Doch sei auch das gesamte Lager von einem Zaun umgeben und von bewaffneten Wärtern bewacht gewesen. Zahlreiche überlebende Lagerinsassen haben diese Version bestätigt. Am 7. August, zwei Tage nach dem Besuch des ITN-Teams, wurde der Zaun abgebaut und Trnopolje in ein „Sammelzentrum“ umbenannt. Auf einer Pressekonferenz in Bonn versuchte Deichmann gestern seine These durch angeblich ebenfalls von dem ITN-Team gedrehtes, aber nicht ausgestrahltes Filmmaterial zu belegen. Doch die von Deichmann in Bonn präsentierte Filmrolle ist ein Zusammenschnitt von Material über Trnopolje, das europäische Fernsehgesellschaften sowie Privatleute auf Videokameras am 5. August 92 und in den Wochen danach gedreht haben. Die Filmrolle stammt aus dem Archiv des Den Haager Tribunals. Vor diesem trat Deichmann im letzten Jahr als „Expertenzeuge“ der Verteidigung im Verfahren gegen den bosnischen Serben Dušan Tadić auf. Angestellt von dem Belgrader Rechtsanwalt Mischa Wladimiroff, „bezeugte“ Deichmann die angeblich serbenfeindliche Berichterstattung der deutschen Medien. Fragen nach den Finanzquellen für seine kostspielige Kampagne konnte Deichmann auf der Bonner Pressekonferenz nicht schlüssig beantworten. Dennoch druckten seit Januar verschiedene Presseorgane seinen Artikel ab. Auf die Veröffentlichung in der englischen trotzkistischen Zeitschrift Living Marxism hat ITN inzwischen mit einer Klage reagiert. BBC und andere Medien lehnten die Veröffentlichung nach Prüfung des Materials ab — und nicht unter Klagedrohung von ITN, wie Deichmann in Bonn behauptete. Der Independent, der den Artikel im Januar in seiner Sonntagsaugabe gedruckt hatte, entschuldigte sich inzwischen schriftlich bei ITN. Andreas Zumach