: In der Grauzone zwischen Geld und Gott
■ Will Self liest aus seinem Roman Spass, einer brillanten Katharsis durch Grausamkeit
Was verbindet Lewis Carroll, Elfriede Jelinek und Will Self? Alle drei lassen kindliche Angst und die heile Welt des Spielzeugs zu Attacken unglaublicher Grausamkeit reagieren. Wobei zumindest die beiden letzteren bewußt versuchen, die fatale Spannung dieser Erscheinungen in Massakern und Zynismus zu befreien. Die heuchlerischen Niedlichkeitsschemen eines Kinderzimmers werden von der krank gemachten Kinderseele befruchtet und machen eine Metamorphose zum Bestialischen durch. Die gequälte Persönlichkeit entwickelt mit Hilfe dieser Bilder einen pantagruelschen Zerstörungswillen, der einer Katharsis gleichkommt. Auch Comicserien wie Batman ist diese Umdeutung von Spielzeug nicht fremd.
Will Self benutzt dazu eine britische Bilderbuchfigur, Den Dicken Kontrolleur, im Original der gottmenschliche Anführer einer Clique von lebenden Lokomotiven auf der Insel Sodor. In Spass – Eine Moritat schlüpfen Aleister Crowley, Charles Manson, de Sade und der unbekannte Großbankier in die Figur und ergeben den perfekten, amoralischen Teufel, der die Hauptfigur, Ian Wharton, als Jünger heranzieht.
Der Grund für die Wahl Ians ist seine Fähigkeit zur Eidetik, das ist die höchst seltene Begabung, sich Vorstellungen von Dingen in vollkommener Präzision zu machen. Dieses oft zu Autismus führende Talent macht im krankhaften Fall die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie ununterscheidbar. In dieser Grauzone arbeitet Will Self.
Mit einer brillanten erzählerischen Ingenieursleistung, bei der jede scheinbare Realität sich als Idee erweisen könnte, jede offensichtliche Wahnvorstellung sich nur als die Verklärung einer realen Begebenheit entpuppen läßt, erzählt Self die Lebensgeschichte des dicken Kindes Ian. Vom Abgang des Vaters und einer faden Kindheit auf Mutters Campingplatz, von der Bekanntschaft mit Dem Dicken Kontrolleur und den folgenden Lehrstunden, die schwer an das magische Sektierertum Aleister Crowleys erinnern, schließlich von der Therapie bei Dr. Gyggle, in der Ian seinen Guru als eine verdrehte Vaterprojektion erkennen soll. Und hier geht die Geschichte erst richtig los.
Selfs Talent, selbst in den abstrusesten Wendungen den Faden der Geschichte nicht zu verlieren und ihn immer gerade noch an der Vorstellung des Möglichen festzuzurren, sorgt für die Fesselung des Lesers. Dabei bringt Self Komplexe in Fühlung, deren überraschende Verbindung immer wieder lässig hergestellt wird. Zum Beispiel Okkultismus und Finanzspekulation. Oder Warenproduktion und Psychoanalyse. Oder Grausamkeit und Konvention.
Self läßt den Leser laufend in die Falle der Täuschung und des Perspektivwechsels tappen, ohne ihn an die Konfusion freizugeben. Denn die Geschichte des Ian Wharton steht auf einem Fundament höchst wirklicher Biografie, und die Katharsis der Grausamkeit, die Ian in einer reich verzierten Version erlebt, ist als „überraschender“Ausbruch von Gewalt Alltag auf diesem Globus. Ein Alltag allerdings, den niemand so recht verstehen will. Denn eigentlich wollen alle Menschen doch nur Spass haben. Till Briegleb 413 S., 42 Mark, Luchterhand Lesung: Mo, 17. März, 21 Uhr, Markthalle
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