Manche mögen's kalt

„Walrösser“ heißen jene russischen BürgerInnen, die bei jedem Winterwetter ins nächstbeste Eisloch springen. Das Eistauchen ist eine urrussische Leidenschaft  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Wer heute in Moskau an einem der immer noch zugefrorenen Flüsse, Seen, Tümpel oder Teiche spazierengeht und es neben sich plötzlich sehr laut platschen, prusten und schmatzen hört, der ist wahrscheinlich einem „Walroß“ begegnet. Gemeint ist kein Tier. Als „Morsch“ – das heißt auf russisch „Walroß“ – bezeichnen sich jene BürgerInnen, die den unwiderstehlichen Drang verspüren, bei jedem Winterwetter die Eisdecke über Gewässern aufzuhacken und hineinzuhechten. Allein in der Hauptstadt sind es einige Zehntausende, die dieser urrussischen Leidenschaft fröhnen – so schätzt jedenfalls die „Föderation für Abhärtung und Winterschwimmen“.

Am Sonnabend, den 8. März, feierte dieser Verein mit einer großen Schwimmschau im Moskauer Silberwäldchen das offizielle Ende der Saison. Es war das 37. Mal, daß diese Zeremonie hier zum Internationalen Frauentag abgehalten wurde. Einige Dutzend „Walroß“- Männer und „Walroß“-Frauen bewiesen vor etwa dreihundert ZuschauerInnen in einem fünfundzwanzig Meter langen Eisloch ihre Ausdauer. Und ob sie nun nur kurz eintauchten – zwecks „Weihe“ nach dem ersten „durchgeroßten“ Winter ihres Lebens –, oder ob erfahrene „Kälte-Rettungsschwimmer“ ganze 15 Minuten ihre Bahnen zogen – allen rief das bei um die 0 Grad bibbernde Publikum begeistert zu: „Prachtkerl!“ oder „Prachtmädel!“

Das Spektakel hatte mit Vorsichtsmaßnahmen begonnen. Respektierliche Herren mit Schlipsen und in Redingotes schritten den Wald ab. Und wie ein Schlachthammel zur Opferbank wurde ein zierlicher Froschmann in voller Montur ans Ufer des „Bodenlosen Sees“ geführt, dessen Name sich glücklicherweise als unbegründet erwies. Statt der befürchteten Sprengkörper förderte der Berufstaucher aus den Tiefen des Gewässers nur eine leere Schampanskoje-Flasche und einen rostigen Kinderschlitten zutage. Grund für den Aufwand: Als Teilnehmer angesagt hatte sich Moskaus beleibter und beliebter Oberbürgermeister Juri Luschkow. Er galt in letzter Zeit als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die nächsten russischen Präsidentenwahlen.

Noch zu Beginn der 90er pflegte er sich jährlich in schlabberigen, knielangen Liebestötern vor laufenden Kameras ins eisige Naß zu stürzen. Doch diesmal drückte sich der Lokalmatador. Offenbar hatte Luschkow schon am Freitag kalte Füße bekommen, nachdem sein politischer Hauptkonkurrent und Intimfeind, Anatoli Tschubais, zum russischen Vizepremier ernannt worden war.

Luschkows Kneifen war unbedacht. Denn patriotischen Wählerkreisen beweist sich der wahre Russe nicht zuletzt an seiner Affinität zu Eislöchern. Angesichts männlicher und weiblicher „Walrösser“ schmelzen russische BürgerInnen dahin. Und wenn auch die Gewässer in und um Moskau sämtliche Elemente des mendelejewschen Periodensystems in hoher Konzentration enthalten: Echte „Walrösser“ glauben, daß gegen Rheuma (hic!), Gefäßkrankheiten und die durch Präsident Jelzin populär gewordene ischämische Herzkrankheit nichts besser hilft, als das Hineintauchen in diese Brühe – vorausgesetzt es herrschen Minusgrade. Vermutlich deshalb brüstet sich die üppige Romanzen-Sängerin Babkina – Sirene der neurussischen Businessmeny –, sie verbringe mit ihrem Ensemble den Sylvesterabend stets auf dem russischen Dorfe: in der Banja, an einem Teiche, dessen eisige Fluten sie jeweils in der Neujahrsnacht umschmeichelten.

„Mit genügend Zuschauern ist auch das Sterben schön“, so etwa läßt sich ein bekanntes russisches Sprichwort übersetzen. Fest steht, daß die „Morschi“ für ihr Erschauern reichlich Lob einheimsen. Da die Russen dem Internationalen Frauentag – anders als ihren Frauen – regelmäßig Ehre zollen, bekamen an diesem 8. März vor allem die „Walroß“-Damen Honig ums Maul geschmiert und je eine Tulpe in die Hand gedrückt. Als „unsere lieben Nixchen“ und „Damuschki“ begrüßte die Ansagerin vom Verein die Schwimmerinnen. Während eine kompakte Figur munter kraulte, tönte es vom Mikrophon: „Das ist Galina, ihr genaues Alter werde ich nicht verraten, aber sie ist schon pensioniert. Schauen Sie nur, was für eine Freude ihr das Schwimmen macht! Sie hat im letzten Winter wunderbar abgenommen“.

Bei einer Mutter von zwei studierenden Söhnen geizte die Kommentatorin weniger mit Informationen: „Sie ist schon fünfzig. Nein, nein, niemals können wir das glauben! Zwanzig, zwanzig! Keinen Tag mehr würden wir ihr geben!“ Angestachelt von so viel weiblicher Verve wollte sich der Berichterstatter des Zweiten Russischen Fernsehkanals nicht lumpen lassen. Bald schon stand er, jugendlich-munter, aber nicht mehr ganz festen Fleisches, in Bermudas vor der Kamera. In der nächsten Minute zierte ihn nur noch ein winziger Badeslip, worauf er sich in die Fluten stürzte. „Ihnen wird hier nur ein kleiner Teil dessen vorgeführt, wozu Menschen fähig sind“, sagt die Dame vom Verein.

„Mit Gott ins Eisloch!“ wünschte die herzliche Ansagerin bald darauf einigen TeilnehmerInnen. Am Sonntag, den 9. März, endete mit der „Butterwoche“ der russische Karneval, auf den die kirchliche Fastenzeit folgt. Und ebenso wie der Karneval hat natürlich der Brauch, in Eislöchern herumzuhopsen, seine vorchristlichen Ursprünge.

Auch „Kreschtschenie“, die Feier der Taufe Christi durch seinen Vorläufer Johannes, verbindet heidnische und christlich-orthodoxe Elemente. Um dieses Fest herum, im letzten Januardrittel, werden besonders harte Fröste erwartet – vergleichbar unseren Dreikönigsfrösten. Der Volksmund will es, daß in der besagten Nacht alle Gewässer ganz von selbst zu Weihwasser werden.

Die Kirche hingegen demonstrierte stets, daß dieser Vorgang nicht ohne priesterlichen Katalysator denkbar sei. Die „Väterchen“ führen ihre Schäflein seit Jahrhunderten an jenem Tag zu einem vorher vorsorglich angelegten Eisloch im nächsten See oder Fluß, auch „Jordan“ genannt. Dort schöpften und weihten sie Wasser. Wer sich unter Bekreuzigungen damit besprengte, hatte gute Chancen, sich eine Krankheit fortzubeten.

Gläubige, die ganz sicher gehen wollten, tauchten sogar dreimal den Kopf in den Weih-Bottich. Kein Wunder, daß jetzt einige russisch-orthodoxe Gemeinden auf ihrem geistigen Weg zurück zu den Quellen an jenem Tag wieder Fluß-Taufen unter freiem Himmel vornehmen.

Die „Walroß-Philosphie“ verbindet sportliches Training mit meditativen Elementen. Elite-„Walrösser“ sind wahre Jogis der Kälte und strafen durch ihre physische Widerstandskraft gegenüber derselben die Wissenschaft lügen. Der Rückzug des Blutes in die inneren Organe und die funktionelle Umwandlung des Unterhautgewebes zur Wärme-Isolationsschicht geht unter starker Kälteeinwirkung bei geübten „Walrössern“ angeblich bis zu 15mal schneller vor sich, als bei gewöhnlichen Sterblichen.

Etwa 6.000 Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sind in der „Internationalen Assoziation für Marathon-Winterschwimmen“ organisiert. Die Besten bilden Staffetten, die bei Wassertemperaturen zwischen plus zwei und plus vier Grad die Behringstraße zwischen dem russischen Fernen Osten und Alaska durchschwimmen, oder den Baikalsee. Die TeilnehmerInnen befinden sich dabei jeweils 25 Minuten im Wasser.

Doch die Assoziation strebt nach mehr, als nur nach Rekorden. Für den Fall, daß ein „Walroß“- Organismus einmal lebensgefährlich unterkühlt ist, hat man hier eigene Techniken entwickelt, um das Mitglied aus diesem Zustand wieder hinauszuführen. Diese sollen nun genutzt werden, um dem Kältetod den Kampf anzusagen, dem in den Ländern um den Polarkreis jährlich Hunderte nach Unfällen erliegen. „Mit unseren Rettungsmethoden hätten die meisten Passagiere der Titanic überlebt, nämlich jene, die an den Folgen der Unterkühlung in den Rettungsbooten starben“, versichert der Präsident der „Assoziation für Marathon-Winterschwimmen“, Vladimir Grebjonkin, ein drahtiger Oberst im Ruhestand.

Das nächste Jahr hat die UNESCO unter das Motto „Mensch und Ozean“ gestellt. Aus diesem Anlaß nehmen sich einige Mitglieder der Assoziation etwas Besonderes vor. Sie wollen einen Eisberg vom Ort des Untergangs der Titanic durch Schlepper zur Messe EXPO 98 nach Lissabon bugsieren lassen und ihn selbst im Ozean schwimmend begleiten.

Bescheidenere Ziele setzen sich der einarmige Grigori Israilowitsch (78), Alexander Viktorowitsch (70) und Gennadij Grigorjewitsch (67). Wie Hunderttausende russischer „Walrösser“ gehören sie keiner Föderation oder Assoziation an. Zum Umziehen haben sie sich selbst eine Blechhütte am Ufer des Moskwa-Flusses hinter ihrer Betonplatten-Hochhaussiedlung gebaut. Jeder, der mitmachen möchte, bekommt einen Schlüssel.

Darin besteht ihre ganze Organisation. Die drei ziehen es vor, ohne Badehose ins Eis zu tauchen. Trotzdem – oder deshalb – sind sie nicht scharf auf ZuschauerInnen. „Der nasse Lappen am Hintern stört doch nur“, erklärt Alexander Viktorowitsch und verkündet selbstgewiß: „Nackte Haut ist die beste Winterkleidung!“ Der ehemalige Militär stellt sich als „Exekutivdirektor einer kommerziellen Struktur“ vor und erzählt: „Meine Sekretärin dreht immer die Augen zum Himmel und sagt: Wie muß man sich nur selbst hassen, um sich derart zum Gespött zu machen! Ich aber glaube, daß sich der Mensch zu irgend etwas überwinden sollte, ob er nun Frühgymnastik treibt, das Rauchen aufgibt oder walroßt“.

Alexander Viktorowitsch, der nur an Sonntagen in die Kälte taucht, versichert: „Es ist unbeschreiblich, wie du dich danach fühlst. Du vergißt, daß du 70 Jahre alt bist, daß du schon allerhand Häßliches im Leben gesehen hast und daß die Zeiten doch recht prosaisch sind.“ Und voller Enthusiasmus fügt er noch hinzu: „Die ganze Woche über schmachtet mein Körper nach diesem Augenblick. – Und im Traum, da tauche ich manchmal in ein Eisloch.“

Das Loch im Eis, das sich Alexander, Grigori und Valentin gehauen haben, mißt übrigens kaum mehr als zwei Quadratmeter. Wie sagte doch noch der russische Schriftsteller Maxim Gorki: Im Leben findet sich immer ein Plätzchen für eine Heldentat.