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„Und weiterreisen“

■ Literaturhaus: Herta Müller las Else Lasker-Schüler und andere EmigrantInnen

Der Saal des Literaturhauses war überfüllt, zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung wurden zusätzliche Stühle hineingetragen. Herta Müller, Kleist-Preisträgerin 1994, war angekündigt, die Kleist-Preisträgerin von 1932 vorzustellen: Else Lasker-Schüler.

Schon in der Einleitung revidierte Jürgen Serke das herkömmlich-nostalgische Lasker-Schüler-Bild, das die 1869 in Elberfeld geborene Dichterin auf die Rolle des schillernden Paradiesvogels in expressionistischen Zirkeln reduziert. Zum Vorschein kam die ihrer jüdischen Tradition verbundene und nicht assimilierte Literatin, die mit elf Jahren wegen des antisemitischen Klimas an ihrer Schule Privatunterricht erhielt, später von den Nazis vertrieben wurde und 1945 verarmt und vereinsamt in Jerusalem starb. Die überfällige, aber kaum verbreitete Revision diente einem Zweck: Die Veranstaltung warb für die Stiftung Verbrannte und verbannte Dichter, die für den Aufbau einer Begegnungs- und Forschungsstätte „zur Darstellung literarischen Widerstandes gegen die Unfreiheit“ auf Spenden angewiesen ist.

Das Thema Emigration war der rote Faden des Abends. In Herta Müllers Vortrag trat die Lyrik Else Lasker-Schülers zurück, ganze vier ihrer Gedichte waren zu hören. Daneben KollegInnen, alle durch das gemeinsame Schicksal der Verfolgung zwischen 1933 und 1945 geeint: Irmgard Keun, Karl Kraus, Theodor Kramer, Paul Celan, Georges-Arthur Goldschmidt und andere. Gedichte, vereinzelt kurze Prosatexte aus dieser Zeit, in klarer, geordneter, zuweilen überdeutlicher Sprache: Fragmente zurückgelassener Heimat, Versuche, eine von moderner Barbarei zerstörte Welt künstlerisch wieder zu kitten, oft zynisch-spöttische Blicke auf deutsche Realität – ein hilfloser Abschied. Vom Publikum wurden die Texte behutsam aufgenommen: höflicher Applaus; Gesprächsstoff, der in kleineren Kreisen entrollt wurde.

Die Leiden der Emigration und ihre literarische Verarbeitung – der Bogen spannte sich immer wieder zurück zum Ausgangspunkt, der umhergetriebenen Lasker-Schüler. „Sie müssen uns leider den Dienst erweisen / Und weiterreisen“, dichtete ein Flüchtender bitter. Die Schweizer Fremdenpolizei beantragte 1934 die Ausweisung der „Hotelaufenthalterin“ Else Lasker-Schüler.

Folke Havekost

Informationen zur Stiftung „Verbrannte und verbannte Dichter“ sind bei der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft e.V. in Wuppertal erhältlich. Tel. 0202/305198.

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