Die Rückkehr des Oklahoma-Smith

Zwanzig Jahre nachdem er einen Mann erstochen hat, stand ein 39jähriger Amerikaner in Memmingen vor Gericht. Geahndet wurde die Tat nur milde – und als später Racheakt eines mißbrauchten Kindes  ■ Von Klaus Wittmann

Im großen Sitzungssaal des Memminger Landgerichts sitzt ein schlanker Mann, Ende Dreißig. Ruhig hört er sich die Übersetzung der Dolmetscherin an. Gewissenhaft versucht er, jede Frage zu beantworten. Über zwei Jahre lang hat Charles Phillip Smith aus dem US-Bundesstaat Oklahoma, genannt „Oklahoma-Smith“, auf seinen Prozeß gewartet. Zwanzig Jahre nach einer blutigen Tat hat diesen Mann die Vergangenheit wieder eingeholt. Vehement hatte er sich seiner Auslieferung nach Deutschland widersetzt. Vergeblich.

Am Aschermittwoch 1977 zwischen 22 und 23 Uhr soll Smith, so die Anklage, mit zwölf Messerstichen den 57jährigen deutschen Bahnbeamten Johann K. getötet und in die Donau geworfen haben. Charles Smith war zu dieser Zeit GI in Neu-Ulm, er diente bei einer Pershing-Einheit. Obwohl er unmittelbar nach der Tat einem Zimmerkollegen davon berichtete, geschah nichts. Der Kollege glaubte ihm nicht. Wenig später wurde Smith nach Alaska versetzt. Einige Jahre später beendete er seine Soldatenlaufbahn, wurde Postbeamter in Oklahoma. Alles ging seinen Gang, bis am 31. Januar 1995 die US-Marshalls bei ihm auftauchten und ihn wegen des Verdachts auf Totschlag verhafteten.

Eigentlich war der Fall längst zu den Akten gelegt. Man hatte einen Monat nach der Bluttat vom Aschermittwoch zwar die Leiche des Bahnbeamten Johann K. im Fangrechen eines Donaukraftwerkes gefunden und auch recherchieren können, daß dieser Bahnsekretär gern seine Zeit mit US-Soldaten in Kneipen verbrachte und homosexuell war. Man hatte recht schnell ein Phantombild verbreitet und einen GI vorläufig festgenommen, der als letzter mit dem Beamten in der Toilette einer Gaststätte gesehen worden war. Der Tatverdächtige mußte freilich wegen Mangels an Beweisen wieder freigelassen werden. Eine weitere Spur gab es nicht.

Seine unfreiwillige Rückkehr nach Deutschland verdankt Oklahoma-Smith dem Kommissar Zufall. 1992, fünfzehn Jahre nach seiner Tat, fuhr eine amerikanische Kriminalpolizistin von der Nürnberger Niederlassung des „Civil Investigation Department“ zu einem Familienfest heim nach Oklahoma. Dort traf die Lügendetektorspezialistin ihren Bruder, der früher einmal in Deutschland stationiert war. Die Polizistin wurde hellhörig, als dieser erzählte, daß ihm damals ein Zimmerkollege berichtet habe, er hätte einen Mann, von dem er sexuell belästigt worden sei, getötet und in die Donau geworfen. Der bereits zu den Akten gelegte Totschlag kam als Sache Oklahoma-Smith erneut ins Rollen.

Es folgte der aussichtslos erscheinende Versuch, Personalunterlagen der längst aufgelösten US- Einheit irgendwo in den Staaten ausfindig zu machen. Irgendwie gelang das, und dann kam aus den USA ein Hinweis des FBI, die Deutschen sollten besser versuchen, den in Oklahoma ausfindig gemachten und verhafteten Mr. Smith in der Bundesrepublik anzuklagen, da aufgrund der schwierigen Beweislage und anderer Prozeßvoraussetzungen ein Verfahren in den USA wenig wahrscheinlich sei. So wurde Charles Smith schließlich im August vergangenen Jahres von Hauptkommissar Wieland Pokorny in Oklahoma abgeholt und in die Justizvollzugsanstalt Neu-Ulm gebracht.

Nun sitzt also dieser Oklahoma- Smith im Großen Gerichtssaal des Memminger Landgerichts, in dem vor acht Jahren im größten deutschen Abtreibungsprozeß gegen den Frauenarzt Horst Theissen verhandelt wurde. Smith' Rechtsanwalt war einer der Theissen- Verteidiger. Stockend berichtet der Angeklagte auf Befragen des Vorsitzenden Richters von seiner schwierigen Kindheit, davon, daß er mehrmals von zu Hause ausgerissen sei. Die 9. Volksschulklasse habe er vorzeitig verlassen, anschließend habe er bei „Burger King“ geschuftet. Schließlich sei er freiwillig zur Army gegangen. Flucht vor zu Hause sei das gewesen.

Mit 17 oder 18, genau weiß Charles Smith das nicht mehr, habe er seine erste Frau kennengelernt. Als er nach Deutschland versetzt wurde, ging diese Ehe in die Brüche. Ähnlich erging es ihm mit einer weiteren Ehe, aus der er zwei Kinder hat. Eine Reise in die Vergangenheit ist das – mit vielen Erinnerungslücken. Und doch wirkt alles so schlüssig, als würde ein gewitzter Krimiautor im Hintergrund Regie führen.

Viel getrunken habe er in seiner Zeit als GI in Deutschland, berichtet Oklahoma-Smith, auch ein wenig Haschisch und Marihuana geraucht. Im „Biker-Outfit“ sei er immer unterwegs gewesen. Ein Einzelgänger, wie er sagt, einer, der sich immer unsicher fühlte. Einmal nur habe er Streit gehabt – mit einem Schwarzen, der sein Mädchen angemacht habe. Aber dieser Streit sei nicht eskaliert. Da fragt der Richter nach diesem Messer. Jeder GI habe damals so ein „Buck-Knife“ besessen, erklärt Smith, das sei fast obligatorisch gewesen. Die Befragung wendet sich der Tat zu.

Von einem Manöver sei er zurückgekommen, beginnt Smith, und habe erfahren, daß seine Freundin einen anderen habe. Trinken, trinken, trinken und dann den romantischen Gefühlen nachgeben, runter zum Donauufer, wo sie immer zusammen waren. Dort ist er dann eingenickt. Plötzlich packt ihn eine Hand an der Schulter, zerrt an ihm. Vor ihm steht ein kräftiger älterer Mann mit entblößtem Penis. Er versucht, den Mann wegzustoßen, aber der bleibt hartnäckig. Charles Smith zieht sein Messer und sticht zu. Fünf- oder sechsmal, sagt er. Zwölfmal ergab die Obduktion.

„Yes, I know“, sagt er. Aber er könne sich nur an fünf, sechs Stiche erinnern. Der Richter zeigt ihm die Fotos seines Opfers. Es ist das erste Mal, daß der Angeklagte wütend wird im Gerichtssaal. Er wendet sich ab, weint. Das Verhör wird zum Stakkato. Richter: Was haben Sie gedacht, was der will, als der vor Ihnen stand. Smith: Das gleiche wie der Priester. Richter: Wollten Sie ihn metzeln? Smith: Yes. Richter: Könnte man von Ihnen sagen, daß Sie ein Mann waren, dem es nicht viel ausmachte, einen Mann zu töten? Smith: Nein! Richter: Was haben Sie mit dem Mann getan, nachdem Sie gestochen hatten? Smith: Weggestoßen, runtergezogen ans Wasser. „I pushed him into the river.“

Charles Smith irrte nach der Tat umher, rannte zurück in die Kaserne, erzählte seinem Kumpel davon, doch der glaubte ihm, wie gesagt, kein Wort. Das bestätigt dieser auch als Zeuge vor der Großen Jugendkammer. Dann wird die Öffentlichkeit für eine gute Stunde ausgeschlossen. Weil Dinge aus der Jugendzeit des Angeklagten zur Sprache kommen, die tief in sein Intimleben eingreifen, heißt es. Als die Öffentlichkeit wieder zugelassen ist, sorgt Rechtsanwalt Wolfgang Kreuzer für Aufklärung. „Also, das war im Alter von elf Jahren. Der Täter war ein Priester von den Barfüßigen Karmelitern, ein angesehener Gemeindepfarrer“, berichtet der Verteidiger. Unter dem Vorwand, er brauche eine Begleitung für eine seelsorgerische Fahrt nach Texas, habe er Charles Smith mitgenommen. „In einem Hotel endete die Fahrt. Dort ist er von diesem Pfarrer sexuell mißbraucht worden!“

In der nichtöffentlichen Sitzung hatte Smith ausführlich dargestellt, wie dieser Ordenspriester ihn zum Analverkehr gezwungen habe. Ein fürchterliches Erlebnis, zumal er völlig allein gelassen wurde. Es sei nicht daran zu denken gewesen, mit den Eltern zu sprechen. Erst viel später, im Alter von 25 Jahren, hat Smith sich an die Ordensoberin gewandt und darum gebeten, daß der Pfarrer abgelöst wird. Ist das nicht alles nur eine späte Schutzbehauptung? Der Anwalt sagt darauf: „Nein, das ist bewiesen. Wir haben ein Schreiben der Ordensschwester, in dem zugesichert wurde, daß dieser Pfarrer mit keinerlei seelsorgerischer Tätigkeit in der Öffentlichkeit mehr in Kontakt kommt.“

Und der vom Gericht bestellte Gutachter läßt keinen Zweifel daran, daß Charles Smith zum Zeitpunkt der Tat als Heranwachsender zu sehen gewesen sei. Auch ihm habe Oklahoma-Smith von diesem Erlebnis berichtet. „I wanted to hurt him“ – ich wollte ihm weh tun –, habe er in bezug auf die Tat unumwunden zugegeben, berichtet der Gutachter. Immer wieder habe er damals, als dieser Deutsche mit entblößtem und erigiertem Geschlechtsteil vor ihm stand, den roman colar, den Priesterkragen, vor sich gesehen. Als Bastard bezeichnet Smith den verhaßten Priester. Seine Mutter hatte diesen Pfarrer verehrt.

Irgendwann, berichtet der Sachverständige, habe Smith dann nachgefragt, ob der Getötete Kinder hatte. Und als das bejaht wurde, traf ihn das tief, sagt der Gutachter. Auf das Opfer geht der Anwalt von Smith in seinem Plädoyer ein. An verschiedenen Zeugenaussagen sei deutlich geworden, daß dieser deutsche Beamte ein Doppelleben geführt habe. Seine Familie habe er knappgehalten und das Geld mit Strichjungen verjubelt. Die Tochter des Opfers sitzt zwei Verhandlungstage lang schweigend im Gerichtssaal und verfolgt den Prozeß ohne erkennbare Gefühlsregung.

Daß dieser Mann – ihr Vater – bei seiner Suche nach einem männlichen Sexpartner just an den in seiner Jugend mißbrauchten Charles Smith geraten war, sei natürlich besonders tragisch und schicksalhaft gewesen, wird Richter Plaas später in seiner Urteilsbegründung sagen. Doch Smith habe quasi eine Übersprungshandlung begangen, als er auf Johann K. einstach. Es sei so etwas wie eine stellvertretende Tötung des damaligen Peinigers gewesen, argumentiert der Anwalt. Wie eine Inszenierung wirkt sein Plädoyer: Kindheit, Tat, die Zeit danach und die unfreiwillige Rückkehr des Oklahoma-Smith als Drama in vier Akten. Oberstaatsanwalt Christian Fürle will der Argumentation, hier sei das Jugendstrafrecht anzuwenden, nicht folgen. Er fordert eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren.

Doch das Gericht urteilt deutlich milder: zwei Jahre Jugendstrafe auf Bewährung. Ausdrücklich weist er darauf hin, daß „der Angeklagte in seiner Kindheit mit Sicherheit von einem Priester sexuell mißbraucht wurde“, und schließt damit jeden Zweifel an der Schilderung des Angeklagten aus. Sein späteres Opfer habe den jungen Soldaten Smith auf eine „unverschämt drastische Weise attak- kiert“. Ein jäher Tötungswille sei da beim Angeklagten aufgekommen. Der Richter spricht von einem „Tötungswillen im höchsten Affekt“, und in seiner Stimme schwingt eine Menge Verständnis für den 39jährigen US-Bürger mit.

Oklahoma-Smith verläßt den Gerichtssaal als freier Mann. Er hat bereits mehr als die zweijährige Bewährungsstrafe abgesessen. Er fällt seinem Anwalt um den Hals, beauftragt ihn, gleich für morgen einen Flug nach Oklahoma zu buchen. „Yes, I'll go back to Oklahoma“, strahlt er und klopft dem Polizeibeamten auf die Schulter, der ihn während des Prozesses bewacht hat.