piwik no script img

Nun auch Tschernobyl-Effekt in Japan

Täglich neue Enthüllungen: Die Explosionsfolgen in der japanischen Wiederaufarbeitungsanlage sind größer als erwartet. Plutonium in die Luft freigesetzt, Besucher nicht gewarnt  ■ Aus Tokio Georg Blume

Der Mann, dessen Rat das Land jetzt am dringendsten benötigt, hatte Wichtigeres zu tun: „Wir dürfen nicht übertreiben. Tokaimura ist kein Tschernobyl“, sagte Jinzaburo Takagi, Nuklearchemiker und Japans meistgehörter Atomkritiker, bevor er am Samstag das Flugzeug nach Europa bestieg. Dabei meldeten die Tokioter Tageszeitungen noch am gleichen Tag „Japans größten radioaktiven Unfall“. Als solcher stellte sich die Explosion dar, die sich am Dienstag in der Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) von Tokaimura ereignete und bisher 37 Arbeiter verstrahlte.

Takagi hätte besser nicht fliegen sollen. Er ließ eine völlig verwirrte Öffentlichkeit zurück, die sich trotz aller betonten Unterschiede zu der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl die gleichen Fragen stellt wie viele Europäer 1986. Was etwa sollte der Leser denken, als die zweitgrößte Zeitung des Landes, die seriöse Asahi, mit ihrer Acht-Millionen-Auflage titelte: „Höhere Plutonium-Werte gemessen“? Doch anschließend kam das Blatt zu keiner eigenen Gefahreneinschätzung. Fragen über Fragen auch nach der weiteren Presselektüre: Was etwa unterscheidet die Radioisotope Cäsium, Strontium, Jod 129 und Plutonium, die nach den Berichten in Tokaimura freigesetzt wurden? Oder: Wie läßt sich die radioaktive Verseuchung im Regenwasser messen?

Schließlich klagte Donen, die verantwortliche Betreibergesellschaft der WAA, daß sie nicht über die Mittel verfüge, die übers Wochenende mit den Regenwolken in der Region verbreitete Radioaktivität festzustellen. Ein solcher Fall – Regen nach einem Unfall, bei dem Radioaktivität in die Umgebung freigesetzt wird – sei laut den Betreibern in ihren Sicherheitsszenarien nicht vorgesehen.

Wo auch immer er hinhörte, begegnete dem Zeitgenossen die gleiche Unsicherheit: Nach Bekanntmachungen vom Freitag hatte Donen nach der Explosion das achtfache der üblichen Alpha- Strahlungen an der Unfallstelle gemessen. Diese Angabe erregte deshalb Erstaunen, weil zunächst behauptet wurde, der hochgiftige Alpha-Strahler Plutonium sei bei der Explosion nicht freigesetzt worden. Nun ließ sich das nicht mehr bestreiten. Statt dessen wurde behauptet, die Menge sei irrelevant. Das wollte auch AKW- Kritiker Takagi so sehen, bis Donen seine Angaben übers Wochenende erneut korrigierte: Plötzlich war das 160fache an Alphastrahlen nach dem Unfall gemessen worden. Immer noch keine Gefahr?

Mag sein, daß die Japaner bald so schlau sind wie die Europäer nach Tschernobyl. Aber derzeit verfügen sie über all das nicht, was sich auch die deutsche Öffentlichkeit erst im Jahr 1986 aneignete: Zum Beispiel von unabhängiger Stelle einsetzbare Geigerzähler. Alle radioaktiven Messungen in Tokaimura werden bislang von den Verursachern des Unfalls durchgeführt. So ergaben Bodenproben an dreizehn Orten in der Umgebung des Unfallorts laut Donen keine Verseuchung. Doch wer prüft nach, daß nicht an der 14. Stelle das Ergebnis anders war? Gelogen haben die Betreiber in den letzten Tagen oft genug. Wie etwa mit der Behauptung, daß es kein Video von der Explosion gäbe. Erst Presse-Interviews mit Arbeitern der Anlage belegten das Gegenteil.

Auch andere peinliche Details werden nach und nach bekannt. So waren 64 Studenten und ausländische Besucher zur Zeit des Feuers auf dem Betriebsgelände. Die Betreiber hielten es nicht einmal für nötig, die Gruppe zu warnen.

Die Politik gab sich entrüstet. Kabinettschef Seiroku Kajiyama besuchte am Samstag die Unfallstelle. Das Resumee des derzeit einflußreichsten japanischen Regierungspolitikers: „Ich habe der Atomkraft in den vergangenen 40 Jahren zuviel Vertrauen entgegengebracht. Dieser Unfall hat bei mir eine offene Wunde freigelegt.“ Wenn Kajiyama dieser Erkenntnis Taten folgen läßt, könnte die Explosion in Tokaimura noch weitere unerwartete Folgen haben – diesmal für die Atomlobby.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen