Sisyphos rackert sich ab

Gimmicks und Gegenteiliges zum Abschluß der Berliner Musik-Biennale. Manch alter Muff wurde mit großer Geste neu aufgewirbelt. Doch das Konzept, Gegenwart an Vergangenem abzuarbeiten, ist aufgegangen  ■ Von Christine Hohmeyer

Auf dem Gendarmenmarkt steht ein rostiger Container, in dem es mysteriös rumort. „Music- Box“ ist auf einem Transparent geschrieben, „Live und auf Knopfdruck“. Trotz Nieselregens bildet sich vor dem Münzschlitz eine Schlange, die Nummer gibt's für eine Mark. Eine knarzende Klappe öffnet sich, fünf eingepferchte Musiker fangen an zu spielen.„Music-Box“, ein abseitiges Projekt des Ensembles l'art pour l'art am letzten Wochenende der Biennale, ist mehr als eine launige Idee. Hinter den markigen Titeln (besonders gut gehen „Galopp“, „Schwarzfahrerblues“ oder „Techno in Tüten“) verbergen sich poiniert Botschaften über die neueste Musik. Zum einen: daß die Neue Musik Spaß machen darf (banal, aber nicht selbstverständlich). Zum anderen: daß die Perspektiven sich verschoben haben. Nicht mehr das („objektive“) Werk, sondern Wunsch und Wahrnehmung der Hörenden stehen im Mittelpunkt.

Was das bedeuten kann, zeigte sich schon vorher im Konzert des Ensemble Modern. „Hooloomooloo“ von Olga Neuwirth – ein das Auge bestechender Titel, ein die Ohren betörender Klang. Vom Zuspielband erklingt ein oszillierender Ton, ein elektroakustischer Orgelpunkt, der sich gar nicht angenehm in die Gehörgänge schraubt. Instrumentalfiguren umkreisen den Ton, schmiegen sich an, heben sich plastisch davon ab und verdrängen ihn zuletzt. Spiel mit der Wahrnehmung, Täuschung und doppelter Boden, ein Horchen hinter die Kulissen: Ist er verschwunden, ist er noch da?

Gegenüber diesen ausdifferenzierten Phänomenen einer vorzüglich instrumentierten Oberfläche erklingt „Sisyphos“ von Steffen Schleiermacher als klotziger Schocker. Hatte Schleiermacher auf der letzten Biennale mit „Klang und Stille“ eine frei fließende Musik an den Rändern des gerade noch Hörbaren präsentiert, so zeigte er jetzt eine andere Seite der Klänge. Vierfach besetztes Blech prunkt in großformatigen Klangbildern, vertikal zergliederte Zeit rumpelt in ewigem Kreislauf. Sisyphos rackert sich ab, und die ganze Sache geht ein ums andere Mal von vorne los. Eine prächtige Musik, die sich nicht um innere Differenzierung bemüht, sondern lautmalerische Suggestion in Szene setzt.

Daß die neueste Musik aber nicht nur Fun und eine glänzende Oberfläche zu bieten hat, zeigte sich so richtig erst am letzten Tag der Biennale. Drei Uraufführungen von Maria Cecilia Villanueva, Carola Bauckholt und Nicolaus Richter de Vroe schrieben eine Tendenz weiter, die für die Gegenwart immer wichtiger wird: Stille und Sparsamkeit.

So unterschiedlich die drei Werke auch waren, es einte sie eine knappe, zurückgenommene Ästhetik. In einem übervoll ausverkauften Hamburger Bahnhof spielte das Ensemble Resonanz „Lazos“ für Streichorchester von Villanueva, eine stille, karge Klanglandschaft, die sich horizontal flächig vor den Zuhörern ausbreitet.

Hin und wieder wird die Ruhe durch Pizzicato-Knaller und heftige Rubati aufgescheucht – das jedoch beeindruckt das Gefüge der Klänge wenig. Auch „Doina“ von Carola Bauckholt brauchte wenig Mittel. Ein Gewebe aus Streichern und Stimme täuscht die Sinne: Welches ist der menschliche Laut? Knarrende Streicher und ein an der physiologischen Grenze knurrender Countertenor verschmelzen zu einem Klagegesang.

Kurz nur wird in langgezogenen Gesangslauten der Schmerz stilisiert (so wie in der „echten“ doina, dem rumänischen Klagelied), dann wird die Musik wieder von geräuschhaften Streichern und explosiven Sprachrudimenten durchsetzt. Und selbst dem repräsentativ-abschließenden Orchesterkonzert des BSO unter Michael Gielen blieb die Reduktion nicht erspart: Richter de Vroes „Eraflures“ für Solovioline und Orchester spielt nicht nur mit einem sehr eingeschränkten Tonvorrat (so insistierte Irvine Arditti lange auf einer Zweiklangsfigur), sondern benutzt dazu auch noch abgerissene Töne, Stör- und Nebengeräusche der Violine, die traditionell verpönt waren – Musik aus Ausschußware.

Vor dem Hintergrund all dieses Neuen in der Musik verändert sich auch die Wahrnehmung der Vergangenheit. So erschien einerseits im Abschlußkonzert der Biennale die 1971 fertiggestellte „Kontrakadenz“ von Helmut Lachenmann (dessen Werk den Terminus der „Verweigerung“ auch über die Siebziger hinaus wie einen falschen Bart trug) als konstruktiv sinnliches Werk, dessen Suggestion aus Alltagsgeräuschen und diffizilen Klangfiguren direkt in die Gegenwart verwies.

Andererseits entblößte sich angesichts einer neuen Sparsamkeit um so klarer das leere, opulente Pathos im Klavierkonzert von Siegfried Matthus, das das Sinfonieorchester Leipzig am Samstag mit Pomp und angestaubter Atmosphäre spielte.

Doch auch wenn in der Retrospektive manch alter Muff mit aufgewirbelt wurde: Das Konzept der Biennale, neben der aktuellsten Musik jeweils ein weiteres Jahrzehnt der neuen Musikgeschichte vorzustellen und so Gegenwärtiges an Vergangenem abzuarbeiten, ist wie immer aufgegangen. So richtig spannend wird es dann allerdings im Jahre 2003 werden – wenn die Retrospektive die Gegenwartsschau eingeholt haben wird.