: Berlin-Hanoi: Der lange Weg nach Hause
■ Die Rückkehr ins Heimatland ist für vietnamesische AsylbewerberInnen ausgeschlossen. Schlepperorganisationen versorgen die Rückkehrwilligen in Osteuropa mit den nötigen Papieren
„Sicher nach Polen“ verspricht eine Anzeige im Asiamarkt. „Du brauchst nicht durch die Oder zu schwimmen“, steht da in vietnamesischer Sprache geschrieben. Darunter eine Funktelefonnummer. Es verbirgt sich dahinter keine Pauschalreise, kein Billigurlaub, kein Erholungstrip.
Wählt man die Funknummer an, bekommt man – ebenfalls in Vietnamesisch – ein Angebot zum Transfer in die osteuropäischen Nachbarländer Polen, Tschechien und die Slowakei unterbreitet. Als Reisepreis wird eine vierstellige Summe genannt – der Preis für die Gepäckmitnahme wird extra berechnet.
Seit gut zwei Jahren ist bei Berliner VietnamesInnen der Umzug nach Polen, Tschechien und in die Slowakei begehrt. In Tschechien, gleich an der Grenze zu den Bundesländern Bayern und Sachsen, verkaufen vietnamesische TextilhändlerInnen billige Hosen und T-Shirts an deutsche TagestouristInnen. Ihre in Deutschland erworbenen Sprachkenntnisse kommen ihnen dabei zugute. In Berlin gehen die Geschäfte schlechter. Händler ohne Aufenthaltsgenehmigung müssen seit dem Rückübernahmeabkommen aus dem Jahr 1995 die Abschiebung nach Südostasien fürchten. Mit den osteuropäischen Nachbarländern gibt es solche Abkommen nicht. Vietnam ist das einzige Land der Welt, das von seinen im Ausland lebenden Staatsbürgern ein Visum zur Wiedereinreise fordert.
Gegen den Willen betroffener VietnamesInnen nimmt Vietnam sie von Polen aus nicht zurück, weil es mit Polen kein Rückübernahmeabkommen gibt. Wollen die VietnamesInnen von Polen, Tschechien oder der Slowakei aus Freunde in Berlin besuchen, droht ihnen „nur“ die Abschiebung ins sichere Drittland. Bedingung: Sie weisen die Anreise von dort nach. Dafür reicht auch eine Fahrkarte. Auch aus wirtschaftlichen Gründen erwägen VietnamesInnen immer häufiger die Migration in ein osteuropäisches Nachbarland. Denn in Deutschland sind sie aufgrund der Arbeitsmarktsituation und der Arbeitserlaubnisverordnung in die Billiglohnjobs abgedrängt. Dazu gehören Imbiß- und Textilstände auf Wochenmärkten, China-Restaurants und nächtliche Reinigungsarbeiten. Die Konkurrenz unter diesen zumeist wirtschaftlich selbständig arbeitenden VietnamesInnen wird immer größer; das Einkommen reicht kaum zum Überleben. In Tschechien und Polen sind die Einkommen höher, wenn man sie in Relation zu den dortigen Lebenshaltungskosten setzt.
VietnamesInnen nutzen Polen als Transitland nach Vietnam. AsylbewerberInnen sind nach vietnamesischem Recht illegal aus ihrem Herkunftsland ausgereist. Das wird laut vietnamesischem Strafgesetzbuch mit Haftstrafen zwischen drei Monaten und zwei Jahren oder aber mit bis zu 12 Monaten Umerziehungslager geahndet. Das Abkommen mit Deutschland schließt diese Bestrafung zwar für Abgeschobene aus, für freiwillige Rückkehrer greift diese Ausnahme jedoch nicht.
Wählen rückkehrwillige AsylbewerberInnen die Route über Warschau, werden sie dort von einer Schlepperorganisation mit Papieren versorgt, die sie als legale PolentouristInnen ausweisen. Die tatsächlichen Ausreisedaten werden aus den vietnamesischen Unterlagen gelöscht. Davon jedenfalls gehen diejenigen aus, die diese Rückkehrroute wählen und dafür tief in die Tasche greifen. Werden sie nicht getäuscht, muß es eine Zusammenarbeit zwischen den Schlepperorganisationen und vietnamesischen Behörden geben.
Für die Schlepper, die sich nicht nur um den illegalen Transfer kümmern, sondern die Reisewilligen auch mit neuen Papieren versorgen, ist das ein riesiges Geschäft. Die deutschen Ermittlungsbehörden kümmert dieses „Geschäft“ kaum. „Das ist für uns kein Thema“, bestätigen Polizei, Bundesgrenzschutz und Zollbehörden.
Wie viele VietnamesInnen inzwischen aus Berlin nach Polen oder Tschechien gezogen sind, ist ungewiß. Wenn sie illegal in Deutschland gelebt haben, sind sie ohnehin in keiner Statistik erfaßt. „Und wer noch eine Aufenthaltsgenehmigung hatte, wird sich nicht abgemeldet haben und ist automatisch noch in Berlin registriert“, sagt Nguyen Van Huong, Mitarbeiter im Büro der Berliner Ausländerbeauftragten. Huong vermutet viele solcher Karteileichen.
Das Beratungszentrum „Reistrommel“ weiß von der Migration ihrer Klientel nach Warschau und hat Kontakte zu dortigen Ausländerberatungsstellen geknüpft. mm
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