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Für die multiple Autorenschaft

■ Im hannoverschen Langenhagen ist „vor-ort-Kunst“ zur Institution geworden

Ein riesiger Scheinwerfer steht auf dem Marktplatz von Langenhagen und wirft gebündeltes Licht auf eine hölzerne Rednertribüne. Etwa 80 Leute haben sich an diesem Abend eingefunden, um zu sehen und zu hören, was ein kleines, schwarzweißes Plakat nach Art eines Steckbriefes ihnen angekündigt hatte: „Ulrike Meinhof spricht über ihre Verhaftung am 15.6. 1972 in Langenhagen“. Stefan Micheel und Hans Winkler, die Berliner Künstlergruppe p.t.t.red (paint the town red), haben die RAF- Terroristin nicht übermäßig glorifizieren wollen, aber sie haben erreicht, daß unter dem berühmten Foto der gerade Festgenommenen die Bürger über das 25 Jahre zurückliegende Ereignis in ihrer Stadt diskutieren. Erst als einige Jüngere die auffallend hohe Plattform besteigen, nimmt man die Ähnlichkeit des Gerüstes mit einem Schafott wahr. Kai Bauer, Kunstschulleiter und Referent für Bildende Kunst in Langenhagen, ist mit dem Verlauf der einstündigen „vor-ort-Kunst“-Aktion am ersten Märzwochenende sehr zufrieden, hat sich doch wieder gezeigt, daß Kunst da, wo sie unvermittelt im „öffentlichen Raum“ auftritt, die größte Chance hat, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und damit der Verwahrlosung des Begriffs Öffentlichkeit entgegenzuwirken.

Wenige Tage zuvor war in Langenhagen ein anderes „vor-ort- Kunst“-Projekt mit einer Ausstellungseröffnung in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie abgeschlossen worden. Die österreichischen Künstlerinnen Christine & Irene Hohenbüchler hatten in der leerstehenden „Wäscherei“ mit Patienten sechs Wochen zusammengearbeitet. Entscheidend für das Projekt, das zum Ziel die „innere und äußere Erweiterung“ des neuen „Cafés von Takt“ hatte, war, daß sich die Patienten völlig frei für die Mitarbeit entscheiden und ohne therapeutische Einflußnahme malen, zeichnen und aus Ästen Möbel bauen konnten. Seit Jahren verfolgen die Geschwister Hohenbüchler, die an der documenta X teilnehmen werden, das Konzept der „multiplen Autorenschaft“: „Unser Interesse ist es, die Arbeiten der Leute mit unserer Arbeit zu verbinden, ein Gewebe zu flechten, wobei nicht mehr wesentlich sein soll, von wem welcher Faden gesponnen wurde.“ Erfahrungen haben sie auch in der gemeinsamen künstlerischen Arbeit mit Gefangenen und Behinderten. Den Leuten soll die Möglichkeit gegeben werden, mit ihrer Arbeit in die Öffentlichkeit zu gehen. Den oft gehörten Vorwurf, sie würden die Menschen instrumentalisieren, lassen die Hohenbüchlers nicht gelten, weil er die Dialogform der gemeinsamen Arbeit übersieht. Es kränkt sie auch die Abwesenheit ihrer Galerien beim Langenhagener Projekt. „Denen geht es weniger um die Inhalte als um die Produkte. Der Markt will nur echte Hohenbüchlers.“ Bedenkt man, daß noch vor wenigen Jahren der Klinikkomplex durch eine Mauer von der Stadt Langenhagen abgetrennt war, dann hat dieses „vor-ort-Kunst“-Projekt die mit dem Abriß der Mauer begonnene Öffnung ein gutes Stück weitergeführt.

„Die umstrittene ,vor-ort- Kunst‘-Reihe steht vor dem Aus“, so konnte man im Oktober 1993 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung lesen, und sicher hat das so manchen braven Bürger gefreut. Doch auch mit gekürztem Etat sorgte die „vor-ort-Kunst“ weiter für Unruhe in der 50.000 Einwohner zählenden Flughafenstadt im Großraum Hannover. Langenhagen besitzt eine aus dem Boden gestampfte City mit Marktplatz, Rathaus und Einkaufszentrum. Volkshochschule, Stadtbibliothek, Musikschule, Kunstschule und ein Blasorchester, das um die Welt reist, sind die Pfeiler der Langenhagener Kultur.

Dazu kam ab 1992 „,vor-ort- Kunst‘ in städtischen Situationen“ mit drei Projekten im Jahr. Auch wenn die von Achim Könneke 1992 begonnene und seit 1993 von Kai Bauer und Michael Stephan fortgesetzte Reihe immer wieder den Unmut der Bürger und Stadtväter provoziert, zur Möblierung von Fußgängerzonen dürfte es wohl kein Zurück geben.

In hellstes Schweinwerferlicht tauchte Yoko Ono 1994 Langenhagen mit ihrer Aktion „A Celebration of Being Human“. Vom Flughafen bis in den letzten Vor- Ort-Winkel leuchtete das Weiß ihres nackten Hinterteils von Plakatwänden, T-Shirts und Plastiktüten – mehr einer kühlen minimalistischen Skulptur verwandt als den Popos auf Illustrierten. Und tatsächlich knüpfte die Witwe von John Lennon an ihren Film aus den 60er Jahren an, bei dem sie die Kamera auf die individuelle Ausdruckskraft von 365 Hintern beim Gehen gerichtet hatte.

Die Tücke der „vor-ort“-Reihe ist, daß auch Unmutsäußerungen ein untrügliches Zeichen dafür sind, daß über Kunst wieder nachgedacht wird, meint der Kulturreferent. Als das Berliner Künstlerpaar Dellbrügge/de Moll einen verschlossenen Kubus mit der Aufschrift „Der Diskurs findet hier statt“ für zehn Tage auf dem Langenhagener Marktplatz aufstellte, waren die Leute verärgert, weil das aus dem Innern des Kastens dringende Stimmengewirr ihnen etwas signalisierte, von dem sie ausgeschlossen waren. Und schon war der Weg frei für öffentliches Gespräch über den zirkulären Kunstbetrieb.

Auch Georg Winkler ist bei seinem mehrphasigen „vor-ort“-Projekt „media interface Langenhagen“ von den vorgefundenen Verhaltensmustern ausgegangen. Freiwilligen Testpersonen wurde an der Haustür ein nicht ans Netz anschließbarer Fernseher für eine Woche übergeben. Auf einem Fragebogen sollten sie Fragen zu ihrem Umgang mit dem Gerät und zu ihrem Fernsehverhalten allgemein beantworten. Bei dieser Privatsphäre und Öffentlichkeit verzahnenden „Untersuchung“, zu der auch die Auswertung der Fragebögen gehörte, blieb für alle Beteiligten der Kunstanspruch im Hintergrund. Gabriele Hoffmann

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