Visionen von Ruhm und Geld

Der Boxer Graciano Rocchigiani gewinnt gegen den US-Amerikaner John Scully nach Punkten und sucht verzweifelt nach einem Weltmeister  ■ Aus Berlin Matti Lieske

Die „Visions of Glory“, die Montserrat Caballé, schüchtern assistiert von einem schmalstimmigen Johnny Logan, in der Berliner Max-Schmeling-Halle beschwor, waren auch nach dem Halbschwergewichts-Boxkampf zwischen Graciano Rocchigiani und John Scully weitgehend visionär geblieben. Zumindest für den lokalen Heroen mit dem losen Mundwerk und dem verdächtigen Urin.

Zufrieden sah der 33jährige trotz seines klaren Punktsiegs ganz und gar nicht aus, und das lag weder an dem „Unsinn, der letzte Woche in der Zeitung stand“ – gemeint sind die Dopingvorwürfe gegen ihn, die er wegen der fehlenden B-Probe getrost ignorieren kann –, noch an der Bewährungsstrafe, die ihm jüngst aufgebrummt wurde, weil er einen Polizisten zum „Advokatenscheißer“ ernannt hatte. Die Ursache für Graciano Rocchigianis fortgeschrittene Muffligkeit war vielmehr in der zähen Entwicklung seines 5,5-Millionen-Mark-Deals für drei Kämpfe mit dem Fernsehsender RTL zu suchen.

„Fakt ist, daß die mir nicht zutrauen, daß ich Hill schlagen kann“, hatte der Sohn eines sardischen Eisenbiegers schon vor einigen Wochen darüber geschimpft, daß sich nicht er, sondern der ungeliebte Konkurrent Dariusz Michalczewski mit dem Maske-Bezwinger Virgil Hill um diverse Weltmeisterehren prügeln darf (19. April in Oberhausen). Lieber auf Nummer Sicher gehen, dachten sich die Leute von RTL, deren Drehbuch vorsieht, daß Hill erst mal Michalczewski aus dem Weg räumt und dann seine ausgedehnte Deutschlandtournee gegen Rocchigiani fortsetzt. Für diesen hatten die vorsichtigen Fernsehleute zum Auftakt ihres Rocky- Dreiteilers das letztjährige Maske-Opfer John Scully ausgesucht und ihrem undankbaren Angestellten damit eine undankbare Aufgabe gestellt.

Der „Iceman“ aus den USA ist zwar ein Gegner, wie ihn sich ein Weltmeister wünschen mag – nicht gar zu schlecht, aber komplett ungefährlich –, für einen titelfreien Boxer, der das Publikum begeistern, Einschaltquoten in die Höhe treiben und seine eigene, nicht überall ungebrochene Popularität steigern will, ist der 29jährige Scully jedoch ein garstiger Brocken. Ein Defensivkünstler mit undurchdringlicher Deckung, dessen Spezialität es ist, über die Runden zu kommen und auch gute Gegner schlecht aussehen zu lassen. Je wüster Rocchigiani auf die fest vor dem Gesicht verankerten Handschuhe Scullys einschlug, je geschickter dieser mit den Ellenbogen auch Körpertreffer zu verhindern wußte, desto stiller wurden die rund 8.000 Zuschauer, die zu Beginn ihren „Rocky, Rocky“ noch ebenso inbrünstig angefeuert hatten, wie sie Henry Maske bei dessen Vorstellung auspfiffen. Doch selbst auf unumschränktem Rocchigiani-Territorium reicht es nicht, einen vermeintlich schwachen Gegner nur zu dominieren, ohne ihn ein einziges Mal richtig zu treffen.

Das resignierte Kopfschütteln des Siegers, der immerhin zehn Runden lang energisch angegriffen und nach langer Zeit mal wieder einen richtigen Boxkampf gewonnen hatte, sprach Bände. Und das pflichtschuldige „Ich bin ganz zufrieden“ klang noch viel später eher wie „Leckt mich am Arsch“. Ein Nebenton, der in Rocchigianis Rhetorik allerdings ohnehin fast immer mitschwingt. „Wenn ich von zehn Runden zehn verloren hätte, würde ich das auch sagen“, kommentierte der Berliner die Bemerkung des US-Amerikaners, daß dieser eigentlich glaube, gewonnen zu haben, und richtete seinen Blick dann in die Zukunft.

Zusätzlich kompliziert wird jene durch die überraschende Niederlage des unbestritten besten Halbschwergewichtsboxers Roy Jones jr. am Tag zuvor gegen Montell Griffin in Atlantic City. Der WBC-Champion verlor seinen Titel durch Disqualifikation in der 9. Runde, weil er zweimal gegen den am Boden knieenden Gegner nachschlug. Damit fällt Jones, der mit ziemlicher Sicherheit eine Revanche gegen Griffin bestreiten wird, als Kontrahent für den im Juni von RTL geplanten und garantierten WM-Kampf Rocchigianis definitiv aus. Ideal wäre Virgil Hill, so er gegen Michalczewski besteht. „Wenn Graciano boxt wie heute, kann er ihn schlagen“, ist Jean-Marcel Nartz vom Rocchigiani-Management überzeugt, denn Hill sei leichter zu treffen als Scully. Was vor allem daran liegt, daß der Champ im Gegensatz zum Eismännlein ab und zu die Deckung öffnet, um selbst zu treffen.

Schwierig wird es, wenn Michalczewski gewinnt, was zumindest Graciano Rocchigiani, der den Boxverbänden nicht zu Unrecht jede Schlechtigkeit zutraut, wenn es ums Geschäft geht, für „immer wahrscheinlicher“ hält. Dann wird Manager Wilfried Sauerland kaum umhin können, mit seinem Erzfeind, dem Michalczewski-Manager Klaus-Peter Kohl aus Hamburg, ins Geschäft zu kommen. 10 Millionen Mark hat er für einen solchen Kampf in den Raum gestellt – und zwar alles für den Sieger. Eine Idee, die dem Zocker Rocchigiani erheblich mehr behagen dürfteewski, was auch die prompte Reaktion von Kohl auf das Angebot erkennen ließ: „Unseriös und unmoralisch.“ Da Moral jedoch besonders im Profiboxen eine sehr dehnbare Sache ist, dürfte das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch längst nicht gesprochen sein. Mögen auch die Visionen des Ruhmes ein wenig verschwimmen, die „Visions of Money“ sind bestens intakt.