Alice arbeitet hier nicht mehr

■ Neu im Kino: „Haben (oder nicht)“von Laetitia Masson / Eine Liebesgeschichte – ungeschminkt und zum Staunen schön

Ohne Arbeit keine Liebe! Darauf scheint es für Alice herauszulaufen, die junge Frau, die ihren Job in einer Fischfabrik in Boulogne-sur-Mer verliert. Obwohl diese Tätigkeit ganz gewiß nicht der Job ihrer Träume war, wird sie durch die Entlassung völlig aus der Bahn geworfen. Ihr Freund, ihre Familie, ja die ganze Stadt werden ihr schnell unerträglich, und so reist sie nach Lyon. Nicht, weil sie hofft, dort ihre Träume von einer Karriere als Sängerin zu verwirklichen, sondern eher als Flucht vor sich selbst.

In Lyon kann zur gleichen Zeit der verzweifelte Bauarbeiter Bruno vor lauter Einsamkeit nicht schlafen, und er findet Unterschlupf in dem ziemlich schäbigen Hotel mit dem programmatischen Namen „Ideal“. Und wer nimmt hier auch ein Zimmer? Und was passiert dann, nachdem die beiden flüchtige Blicke im Hotelfoyer austauschen? Genau! Eine neue Geschichte erzählt die junge Filmemacherin Laetitia Masson in ihrem Debütfilm ganz sicher nicht. Sie bemüht sich auch erst gar nicht, den Plot durch dramaturgische Tricks, Span-nungsbögen oder Dreieckskonstellationen aufzupeppen.

Sie erzählt schlicht, fast beiläufig; die Essenz ist ihr wichtiger als das Beiwerk, und weil sie ein gutes Auge für Gesten und Details hat, sieht man ganz anders hin. Denn hier sind die kleinen Bewegungen, der Tonfall in einem Gespräch oder die Art, wie Menschen miteinander umgehen, die Hauptattraktionen. Diese Genauigkeit ist es auch, die den Film davor rettet, ein deprimierendes Soziodrama zu sein. Die Figuren werden realistisch in ihrer Arbeits- oder eben Arbeitslosenwelt portraitiert, aber nicht auf diese reduziert, und so schafft Masson in den besten Momenten des Films eine Poesie, die direkt aus dem alltäglichen Leben kommt. „Seit ich Filme machen will, verfolgen mich die gleichen Themen: die Arbeit, die Liebe, das Geld, das Ideal, das Triviale“, sagt die Filmemacherin zu den Ursprüngen von „En avoir (ou pas)“. Ihre Liebenden sind voller Selbstzweifel, und ob es mit den beiden gut geht, läßt die Regisseurin mit einer eingefrorenen Straßenszene am Schluß betont offen, aber vielleicht kann man heute nur noch so Liebesgeschichten erzählen, die nicht von vornherein verlogen wirken.

Daß romantische Filme nur dann gut sind, wenn sich auch die Zuschauer ein wenig in die Protagonisten verlieben können, ist ein Naturgesetz des Kinos. Die Frage „Haben (oder nicht)“stellte sich also für Laetita Masson bei der Besetzung von Alice, und die Antwort fand sie in Sandrine Kiberlain. Sie ist eine echte Neuentdeckung. Ganz und gar nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechend: sommersprossig, kratzbürstig, immer ein wenig zerzaust und garantiert ungeschminkt spielt sie die Alice so natürlich, uneitel und anmutig, daß man sich kaum darum schert, wo der Film mit ihr überhaupt hinwill, solange sie nur weiter möglichst oft ins Bild kommt. Mit dem Gesicht braucht diese Alice kein Wunderland.

Wilfried Hippen

Cinema täglich um 19 Uhr