piwik no script img

Wochen-PostMit Angie im Freien

■ In der geräumten Wagenburg am Bethaniendamm weiß man etwas, was der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen wohl nicht mehr lernt

In dieser Legislaturperiode (1995–1999) war der Regierende Bürgermeister einmal gut drauf, das war im Sommer 1996. Er hatte vier Wochen Urlaub gemacht, war mit seinem Sohn durch Amerika gefahren, hatte abgenommen, war braungebrannt und zuversichtlich. In einem Raum voller Politisierern war er damals mit Abstand der Vernünftigste, sprach mit Augenmaß und Spaß über das, was getan werden mußte, und traute der Stadt und sich zu, unterwegs noch einiges wegzustecken.

Jetzt ist er wieder der alte. Ausstrahlungsfrei, ein rhetorischer Super-GAU, der überfleißige Aktenfresser, der doch nichts bewegt. Und seine Osterferien verbringt er so, wie alle schweren Fälle von Burnout ihre Freizeit totschlagen: auf Dienstreise. In Arabien sucht er Arbeitsplätze für Berlin. Zurückkehren wird er in schlimmerem Zustand. Berlin wird es ihm nicht danken. So kann die Ära Diepgen immer weitergehen bis zur nächsten Großen Koalition 1999. Wäre er doch hiergeblieben, hätte Fontane gelesen und einen Ausflug nach Horno unternommen!

Eine verschwindende Stadt hätte er auch in Berlin noch erleben können. Vielleicht wäre er am Bethaniendamm Angie begegnet. Angie ist klasse. Rhetorisch ist sie so unbeholfen wie Diepgen. Aber durch ihr Stammeln dringt eine Weisheit, die betört. Sie wohnte in der Wagenburg, die vor einer Woche geräumt wurde, und sagte, sie wolle keinen Heimplatz, sondern mit ihren Freunden leben, wie sie will, und dann sei es auch toll, jetzt, wo der Sommer kommt, vor die Tür zu treten und im Freien zu stehen. Jetzt ist sie wohl ganz im Freien. Hoffentlich wird es bald wärmer.

Leute, die mitten in der Stadt in wüsten Bauwagen wohnen, wild angetan und so unbürgerlich, daß hinschauen weh tut, passen nicht ins neue Berlin. Finden die Innenpolitiker, und das stimmt wahrscheinlich. Aber Angie hat recht. Große Städte, die immer neu werden, vertragen und brauchen Einschüsse von Wildwest, Pfadfindertum und Urkommune. In die Vororte kommen Nachtigallen und Wildschweine aus dem Wald; die dauerhaft Unangepaßten finden frische Luft nur in den leeren Flecken der Innenstadt.

Wer das nicht versteht, darf sich nicht wundern, daß die Mittelschicht, die auch etwas von dem weiß, was Angie weiß, lieber gleich ins wilde Brandenburg zieht als in schnurgerade neugebaute Stadtteile mit Doppelnamen. So leert sich die Stadt, für die ihr rastloser Bürgermeister sich dienstreisend und nutzlos aufreibt. Was es heißt, im Freien zu leben, hat er wieder nicht gelernt. Mechthild Küpper

wird fortgesetzt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen