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Das ist Katharsis

■ Christian Schlüter inszeniert im Thalia in der Kunsthalle Sugar Dollies, Klaus Chattens Schönheits-Groteske über das Grundrecht zur Telepräsenz

Die Geschichte ist voll aus dem Leben gegriffen. Da ist Tabea, dick, doof, Single und unglücklich, und da ist ihre Mutter, dick, doof, verwitwet und resolut. Als Rheinländerin weiß sie, daß ihre Tochter genau zwei Chancen hat: die Weiberfastnacht und das Fernsehen. Sugar Dollies heißt die Sendung für den Mann des Lebens. Muttern schickt ein Foto der Cousine ein, und prompt finden sich die beiden in einem deprimierenden Ostberliner Hotelzimmer zum Casting wieder.

In diesem Zimmer, Vorhof der Entertainmenthöhle, inmitten einer kleinen Meute unbegehrter Desperados, geschieht das Unglaubliche: Mutter und Tochter lernen etwas fürs wirkliche Leben. Um ins Fernsehen zu kommen, spielen sie Theater; als ihnen das garantiert geglaubte Grundrecht auf Telepräsenz verwehrt wird, machen sie Ernst.

Mit Hilfe einer sächsischen Sonnenstudio-Assistentin und einer arbeitslosen Schauspielerin, die sich seit geraumer Zeit selbst Begabtenausweise ausstellt, schmeißen sie das Luxusweib von der Casting-Agentur aus dem Fenster. Das ist das Volk. Das ist Katharsis.

„Ich habe nicht die Absicht, meinen Abiturdurchschnitt mit einem Stück zu erhöhen, weil ich nichts beweisen muß. Mein Wunsch ist, so trashig wie möglich zu sein und dabei eine konventionelle, gut gearbeitete Struktur zu entwickeln“, erklärt der 34jährige Schauspieler, Regisseur und Dramatiker Klaus Chatten sein Schreiben.

Christian Schlüter, der Chattens Sugar Dollies nach Aufführungen in London und Berlin jetzt am Thalia Theater inszeniert, schätzt vor allem dessen „handwerklich gute Basis“: „Chatten interessieren mehr die Figuren als die Literatur, die er verzapft. Er schafft es, unterschiedliche Teile der Realität so zu verdichten, daß sie über die Zusammenführung in ihrer Absurdität deutlich werden. Diese Frauen im Wartesaal – das ist ein monströses Theaterbild.

Obgleich Trash und Groteske einem Trend des Theaters junger Regiehoffnungen entsprechen, liegt hier nicht Schlüters Ansatz. „Ich bin im Cockpit von ,Raumschiff Enterprise' groß geworden“, begründet er ein gewisses gewohnheitsbedingtes Desinteresse am Medium Fernsehen.

Den ehemaligen Hamburger Regie-Studenten, der seit zwei Jahren am Thalia assistiert und der im Herbst seine erste Inszenierung in der Schweiz herausbrachte, interessiert gerade die Subversität des anachronistischen Mediums Fernsehen: „Genau darin, daß es so weit weg ist von allem, auch von ökonomischer Vernunft, liegen seine Möglichkeiten.“Die Frauen im Text werden beim Casting für „Sugar Dollies“nicht genommen, weil sie keinen Marktwert haben oder „formatsprengend“sind. „Chatten gibt ihnen das Recht, auf der Bühne zu sein. Das ist die Botschaft des Textes: Theater kann eine sprengende Angelegenheit sein.“

Christiane Kühl

Premiere: Do, 3. April, 20 Uhr, TiK

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