: Haft für Kinder
■ Obwohl die Regierung die UN-Kinderrechtskonvention ratifizierte, genießen junge Flüchtlinge keinen Kinderschutz
Berlin (taz) – Der schwarzhäutige Pit* ist Anfang 1995 nach Hamburg gelangt. Seine Herkunft, sein Alter sind ungewiß. Die Behörden schätzen ihn auf über 16, damit er nach dem Asylverfahrensgesetz „asylmündig“ ist. Pit ist offenbar schwer traumatisiert, er hat Verbrennungen am Bein, er kann nicht sprechen. Während seiner Asylanhörung vergräbt er das Gesicht in den Händen.
Sein Asylantrag wird abgelehnt, er wird in Abschiebehaft gesteckt. Seinem Anwalt gelingt es, ihn nach zwei Monaten freizubekommen, er erhält eine Duldung, einen Vormund und einen Platz im Jugendheim. Langsam werden Bruchteile seiner Lebensgeschichte sichtbar: Offensichtlich ist er dem Völkermord in Ruanda nur knapp entkommen.
Die neunjährige Elise*, die achtjährige Alia* und die zweijährige Zebab* konnten ihren Verstümmlern hingegen höchstwahrscheinlich nicht entkommen. Die drei Schwestern wurden in Berlin geboren, ihre Eltern waren aus Nigeria. Der traditionell eingestellte Vater studierte hier, ging aber nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie in seine Heimat zurück und verlangte von seiner Familie die Rückkehr. Seine Frau weigerte sich, weil den Töchtern eine Zwangsbeschneidung drohte. Die Ausländerbehörde gewährte ihnen kein Bleiberecht: Die Angst der Frau sei vorgespielt. Ende Juli 1996 wurden sie abgeschoben. Eine Woche später meldete sich die Frau verzweifelt aus Lagos: Ihre Kinder seien ihr weggenommen worden.
Zwei Fälle von Tausenden, in denen deutsche Behörden ausländischen Kindern eine angemessene Behandlung ihres Falles verweigerten. Obwohl sich exakt heute die Ratifizierung der UN- Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung zum fünftenmal jährt, befinde sich das deutsche Ausländer- und Asylrecht noch immer nicht im Einklang mit den Völkerrechtsnormen, kritisierte Pro-Asyl-Sprecher Heiko Kauffmann in einem Brief an die Bonner Fraktionsvorsitzenden.
Die Bundesregierung, so Kauffmann, unterlaufe ihre Pflicht zur Erfüllung der UN-Normen durch ihre „Vorbehaltserklärung“, mit der sie verhindern wolle, ein kindgerechtes Asylverfahren schaffen zu müssen. Die Folge: Traumatisierte Flüchtlingskinder wie Pit werden wie Erwachsene behandelt, ab 16 für „asylmündig“ erklärt und in aussichtslose Asylverfahren geschickt. Pro Asyl, der Europäische Flüchtlingsrat und die rund 60 Kinderschutzinitiativen umfassende National Coalition fordern deshalb, allen Flüchtlingskindern bis 18 Jahren Kinderschutz im Sinne der UN-Konvention zu gewähren.
Das Schicksal von unbegleiteten Flüchtlingskindern sollte in einem Clearing-Verfahren mit der notwendigen Sorgfalt abgeklärt werden. Solche Kinder dürften weder inhaftiert noch in Drittländer abgeschoben, noch im Flughafen unter haftähnlichen Umständen festgehalten werden, wie es im Zuge der neuerlassenen Kindervisumregelung immer öfter geschieht. Das deutsche Gesetz kennt auch keine geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründe, die beispielsweise von Zwangsverstümmelung bedrohte afrikanische Mädchen schützen könnte. Ute Scheub
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen