: Von der Mai-Revolte zum revolutionären Mai
Vor zehn Jahren erlebte Kreuzberg seine Mai-Revolte. Doch der Versuch, ein Jahr später mit der „revolutionären“ Mai-Demonstration eine politische Antwort auf die sozialen Verhältnisse zu geben, scheiterte schon 1989 ■ Von Uwe Rada
Lange Zeit galt die Bolle-Ruine am Görlitzer Bahnhof als revolutionäres Denkmal. Der seit Jahren eingezäunte Häuserstumpf, der noch immer jeglichem Investorendruck trotzt, scheint wie kaum ein anderer Ort an die autonome und militante Geschichte Kreuzbergs zu erinnern. In jener Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1987 feierten Tausende von Kreuzbergern ein Fest der Selbstbedienung. Was gab es bei Bolle nicht alles umsonst. Zigaretten, Bier, Frischgeflügel, Tiefkühlpizza, Toilettenpapier – jeder holte sich, was er brauchte, und das war nicht wenig. Nicht Bolle hatte sich in dieser Nacht köstlich amüsiert, sondern die, die Bolle plünderten. Als schließlich alles getan war – so die Legende –, wurde der Supermarkt mitsamt dem leerstehenden Gebäude einfach abgefackelt.
Die Legende, die am Beginn der „revolutionären“ Kreuzberger Mai-Tradition stand, hielt sich kaum drei Jahre. Der das autonome Weltbild ins Wanken brachte, war weder Staatsschützer noch Sozialarbeiter, er war nicht einmal „Reformist“. Armin St. war Pyromane. Akribisch beschrieb der in Schwaben geborene und seit 1983 in West-Berlin lebende St. der Polizei seine Brandstiftungen. Nicht nur die Bolle-Filiale am Görlitzer Bahnhof hatte der 26jährige abgefackelt, sondern auch die bereits im Rohbau fertiggestellte Kita am Kreuzberger Mauerplatz, deren Bau von der autonomen Szene als Angriff auf den dortigen Kinderbauernhof heftig bekämpft worden war. War der revolutionäre 1. Mai ein Mißverständnis? Eine Verwechslung? Ein weiterer Mythos? Oder doch mehr?
Als am Morgen des 2. Mai 1987 Hunderte von Schaulustigen und Touristen die in den Straßenbelag hineingeschmolzenen Autowracks zwischen Lausitzer Platz und Görlitzer Bahnhof bestaunten, war von Mythos und Revolution noch keine Rede. Es herrschte allenthalben Ratlosigkeit. Nicht vorschnelle Antworten waren gefragt, sondern die Suche nach den Ursachen dieses ganz und gar realen Ereignisses 1. Mai 1987. Zu offensichtlich war die Zahl der Plünderer, war die Teilnahme von Rentnern, Sozialhilfeempfängern, „Normalos“, Immigranten und unpolitischen Kiezjugendlichen an den Straßenschlachten und Plünderungen, als daß die Revolte allein der autonomen Szene oder den „Antiberlinern“ (Eberhard Diepgen) zugeschrieben werden konnte. Gewiß, die Stimmung war aufgeladen.
Eine explosive Mischung aus Wut über die selbstgerechten Feierlichkeiten zur 750-Jahr-Feier und die polizeiliche Durchsuchung des Volkszählungsboykottbüros im Mehringhof hatten schon am Nachmittag auf dem traditionellen Mai-Fest am Lausitzer Platz zu Auseinandersetzungen geführt. Daß das Scharmützel freilich im Ausnahmezustand enden würde, daß es die Polizei über Stunden nicht schaffen sollte, den Kiez rund um den Görlitzer Bahnhof einzunehmen, war nicht nur für die Politiker oder Sozialarbeiter ein überraschendes Ereignis, sondern auch für die autonome Szene. Einig waren sich die Ursachenforscher immerhin darin, daß das Mai-Ereignis etwas mit den sozialen Verhältnissen zu tun hatte, daß sich hinter dem Broschürenglanz der behutsamen Stadterneuerung weiterhin ein soziales Pulverfaß verbarg. Auch nach zehn Jahren „Strategien für Kreuzberg“, so lautete die soziale Botschaft dieser Mainacht, war es nicht gelungen, die materiellen Bedingungen der Kreuzberger zu verbessern. SO 36 war (und ist) noch immer der Bezirk mit dem größten Anteil an Sozialhilfeempfängern, der größten Jugendarbeitslosigkeit.
Die politischen Konsequenzen aus dieser Einsicht fielen freilich höchst unterschiedlich aus. Während der damalige Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU) Kreuzberg zum Aufmarschplatz für polizeistaatliche Konfliktlösungen erklärte, legte der Wirtschaftssenator ein Kreuzberger Beschäftigungsprogramm nach dem anderen auf. Die autonome Szene schließlich kürte pünktlich zum Jahrestag der Revolte den „revolutionären 1. Mai“.
Im Gegensatz zu den Mai-Demos der Folgejahre stand 1988 hinter dem Attribut des Revolutionären allerdings weniger die Selbstbeweihräucherung einer zur politischen Bedeutungslosigkeit zerfallenen Szene, sondern der Versuch, den sozialen Ursachen der Ereignisse am Görlitzer Bahnhof einen politischen Rahmen zu geben. Der Erfolg für das bunte und undogmatische Demo-Bündnis war ebenso überwältigend wie – wieder einmal – überraschend. Über 10.000 Menschen waren zum Demo-Zug vom Oranienplatz über Neukölln zum Kottbusser Tor gekommen. Fazit der Demo-Vorbereitung: Nun müsse das Zeichen, das mit der Demo gesetzt worden sei, in kontinuierliche, alltägliche Politik umgesetzt werden.
Von diesem Anspruch war freilich ein Jahr später kaum mehr etwas zu spüren. Nicht mehr die sozialen Verhältnisse in Kreuzberg standen im Vordergrund der Demo, sondern das seit April 1988 amtierende rot-grüne Regierungsbündnis. Was vom grünen Macher der Koalition, Christian Ströbele, als „Jahrhundertchance“ apostrophiert worden war, sollte an diesem Tag endgültig als „Befriedungsstrategie“ entlarvt werden. Die Folge: Auseinandersetzungen, die in ihrer Dimension fast an den 1. Mai 1987 heranreichten, mehrere hundert Festnahmen und die endgültige Spaltung der Kreuzberger Szene in das autonome Spektrum einerseits und das – vom Senat abhängige – Projektespektrum auf der anderen Seite. Seit dem 1. Mai 1989 agierte die linksradikale Szene in Kreuzberg endgültig im luftleeren Raum.
In dieser Situation der Zerrissenheit folgte die nächste Überraschung: der Fall der Mauer. Während ein kleiner Teil der Kreuzberger Szene die seit der IWF-Tagung bestehenden Kontakte zur Opposition in Ostberlin wieder aufgriff, verschanzte sich der große Rest der Linksradikalen hinter dem Mythos Kreuzberg. Statt den Zusammenbruch des Parteien-Sozialismus als Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit der eigenen Politik zu begreifen, wandte sich die Mehrheit der linken Szene den alten Antworten auf die neuen Fragen zu, organisierte Organisationsdebatten und zelebrierte eine Politik der Ausrufezeichen, wo doch eher ein Nachdenken über die Fragezeichen angebracht gewesen wäre. Symbolischer Ausdruck dieses Paradigmenwechsels war wiederum der „revolutionäre“ 1. Mai, der in den Jahren nach der Wende nun nach Friedrichshain, der Kreuzberger Enklave in Ostberlin, führen sollte.
Spätestens 1992 freilich war das Scheitern dieses „Weiter so!“ nicht mehr zu übersehen. Nachdem in Kreuzberg die Polizei den undogmatischen Teil der Demonstranten vor den militanten Angriffen stalinistischer Gruppen schützen mußte, äußerten Ostberliner Linksradikale erstmals ihre Kritik am „Mai- Ritual“ der Kreuzberger Szene. Die Spaltung der Szene war offensichtlich. Während Gruppen wie das Anti-Olympische Komitee 1994 erstmals gegen die Mai-Demo mobilisierten, am Oranienplatz ein Straßenfest veranstalteten und mit den Vorbereitungen für einen Autonomie-Kongreß begannen, verteidigten die Stalinisten die „revolutionäre“ Mai-„Tradition“ am Oranienplatz, organisierten Ost- Gruppen ihr eigenes Fest am Humannplatz oder begannen den 1. Mai einen Tag zuvor mit der Walpurgisnacht.
Wie sehr die Form Demonstration von ihrem politischen Inhalt getrennt war, zeigte sich auch 1996, als nach zweijähriger Pause die Mai-„Tradition“ – am Rosa-Luxemburg-Platz – wiederaufgenommen wurde.
Während die Zahl politisch Aktiver immer weiter sinkt, konsumierten zehntausend ein Demo- Spektakel, bei dem alles geboten wurde: gutes Wetter samt Straßenschlacht, eine Art Love Parade mit Steineschmeißen. Selbst wenn nun ein sich als nichtstalinistisch verstehendes Demo-Bündnis den Stalinisten den Oranienplatz und damit Kreuzberg überläßt und nun zum zweiten Mal durch Prenzlauer Berg zieht, ist die Mai-Demo mehr denn je Ausdruck linker Bewegungslosigkeit. Krampfhaft wird an einer erstarrten politischen Form festgehalten, wird nicht nach neuen Inhalten gesucht, sondern lediglich nach einer neuen Kulisse für die Kreuzberger Maifestspiele.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen