■ Europa grenzt die Türkei kulturell aus. Ein riskantes Spiel. Es schwächt die traditionell westlich orientierten türkischen Eliten und ermuntert im Gegenzug die Islamisten: Endstation Sehnsucht
Als Kanzler Kohl Anfang März durch seinen engen Berater Joachim Bitterlich die Botschaft nach Ankara übermittelte, daß er in der Türkei „ein asiatisches Land mit fundamentalistischen Tendenzen“ sehe, gingen diese Worte durch die Schlagzeilen der türkischen Presse. Darauf folgte die Nachricht aus Brüssel, die christdemokratischen Parteien Europas erachteten die EU als ein „Zivilisationsprojekt“, an dem die islamische Türkei nicht teilhaben könne.
Der deutsche Kanzler und der türkische Premier Erbakan stimmen mit Samuel Huntington zumindest in einem Punkt überein: Als bestimmendes Merkmal der Zivilisation wird der Glaube ausgemacht. In einer Union, die ausschließlich aus christlichen Staaten besteht, kann ein islamisch geprägtes Land keinen Platz haben – und vice versa. Die Welt sauber aufgeteilt unter „Zivilisationen“?
Es ist nicht das erste Mal, daß große Worte gelassen ausgesprochen werden, und wer diese Äußerungen allzu ernst nimmt, der wird selig. Weder Kohl noch Erbakan haben recht, wenn sie die Religion als das bezeichnendste Merkmal eines geographischen Raumes dieser Welt betrachten wollen, von der wir schon seit längerem wissen, daß sie keine Scheibe ist.
Sprechen wir von etwas profaneren Dingen: War es nicht schon vor der Zollunion klar, daß die EU die Türkei auf absehbare Zeit nicht als Vollmitglied aufnehmen würde? Die Freizügigkeit der Türken in einer von steigender Arbeitslosigkeit geplagten Europäischen Union kommt nicht in Frage. Die Brüsseler Kassen sollen zudem nicht mit Zuschüssen für die armen und gebeutelten ostanatolischen Provinzen belastet werden. Außerdem sind da ja noch die Demokratie- und Menschenrechtsdefizite. Unter geschäftlichen Aspekten sind diese zwar nicht so „essentiell“ wie die Gefahr, die von wandernden Horden hungriger Gesellen ausgeht, aber immerhin und immer tauglich als ein gutes Alibi. Als die Aufhebung der gegenseitigen Zollschranken zur Debatte stand, hieß es in Brüssel hinter verschlossenen Türen: „So billig kriegen wir die Türkei nie.“ Und die EU hat, ungeachtet der „Zivilisationsunterschiede“, zugegriffen. Schon heute macht der Import westeuropäischer Produkte die Hälfte des immensen Handelsdefizits der Türkei aus. Ganze Wirtschaftszweige werden in kommenden Jahrzehnten angesichts der qualitativ besseren Produkte aus dem gelobten Europa zugrunde gehen.
Die Tageszeitung Yeni Yüzyil, die Stimme der europabegeisterten, dynamischen Eliten der Türkei, die Söhne und Töchter Özals, die unbedingt in die „erste Liga“ aufsteigen wollen, hatte ihre Ausgabe nach dem Inkrafttreten der Zollunion betitelt mit: „Ein 200jähriger Traum wird wahr.“ Heute, da absehbar wird, daß es mit der ersten Liga so schnell nicht klappt, zieht sie Vergleiche zwischen Kohl und Hitler.
Bekanntlich schlagen starke Leidenschaften allzu gern in Haß um. Gott sei Dank endet so ein „Rosenkrieg“ meist nur in Hollywood mit Mord und Totschlag. Die Schuld an der übergroßen Euphorie über die Zollunion, die letztendlich nichts anderes als ein nüchternes Kalkül der EU und der exportorientierten Teile der türkischen Wirtschaft war, ihre Absatzmärkte zu vergrößern, tragen auch und vor allem die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller und die besagten Freunde der ersten Liga. Sie wollte unbedingt als die Politikerin in die türkische Geschichte eingehen, die die Türkei zum Mitglied der europäischen Familie macht, mit denselben Ambitionen wie seinerzeit Kohl vor der Einheit. Damals wollte kaum jemand etwas davon wissen, daß die Zollunion für die Türkei auf lange Sicht die Endstation auf dem Wege nach Europa bleiben würde.
Schuld an der gegenwärtigen Krise sind natürlich auch die europäischen Politiker, die ein so gutes Geschäft nicht durch allzu ehrliche Worte vermasseln wollten. Auch angesichts des Erstarkens der Islamisten schwieg man im Westen lange Zeit. „Wenn die Türken ihren Islam mehr ausleben wollen, dann sollen sie es doch“, sagten sie, „der Kemalismus ist sowieso überholt.“ Die Postmoderne war angesagt, und alles nunmehr relativ und „kulturbedingt“. Die Kurden sollten doch ihre Föderation bekommen, wenn sie wollten. Die PKK? Auch mit ihr konnte man reden. Erbakan? Ein Pragmatist, mit dem man bestimmt einen „kritischen Dialog“ führen konnte. Was war schon dabei, wenn ein paar Frauen mehr das Kopftuch trugen? Wenn heute in Bonn der Schrei ertönt, in Kleinasien würden sich plötzlich fundamentalistische Strömungen gefährlich breitmachen, so kann man das beim besten Willen nicht allzu ernst nehmen.
Es sind nicht nur die deutsch- türkischen Beziehungen, die heute auf einen Tiefpunkt gesunken sind. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei steht ein Grundpfeiler der Republik zur Disposition: die Westorientierung dieses Landes, das wie kaum ein anderes in der Geschichte vor über 70 Jahren einen totalen Bruch mit seiner Vergangenheit vollzogen hatte und dessen Eliten seitdem ein einziges Ziel haben: zur „Familie der europäischen Staaten“ zu gehören. Merkmal des Zivilisationsprojekts Europa waren für diese Eliten nicht Glaube und Religion, sondern die Grundprinzipien der Französischen Revolution, die sie in über 70 Jahren versuchten, in die Tat umzusetzen.
Auch wenn die Demokratie nicht so funktionierte wie im Westen, und auch wenn die Marktwirtschaft alles andere als sozial auftrat – es gab keine Alternative dazu. Zum ersten Mal gibt es nun eine Bewegung, die das alles in Frage stellt. Die orientierungslose, konjunkturell schwankende, allzu eng und sporadisch auf aktuelle Bedürfnisse ausgerichtete Politik der EU trägt viel dazu bei, den westlich orientierten Eliten der Türkei gegenüber den Islamisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Man mag zu Recht darüber diskutieren, ob der Kapitalismus à la Westeuropa mit seinem relativ großen Wohlstand und seiner demokratischen Verfassung überhaupt zu exportieren ist. Die Ungewißheit darüber, was kommen würde, wenn die Türkei zu einem islamischen Staat umgestylt würde, wird den Reformkräften in diesem Land keine andere Alternative lassen, als an der Endstation Sehnsucht zu verharren – auch wenn der Rosenstrauß in der Hand schon längst verwelkt und sein Wohlgeruch längst verflogen ist. Dilek Zaptçioglu
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