piwik no script img

Kein Nuditätenkabinett

■ Übertreten und unterlaufen: Mit altphilologischem Sex durch die amerikanische Zensur der dreißiger Jahre. Der Fotograf George Platt Lynes würde heute 90 Jahre

Als das Bostoner Institute of Contemporary Art 1980 die erste umfassende Ausstellung von Fotografien des Amerikaners George Platt Lynes präsentierte, war der Fotograf bereits seit 25 Jahren tot und längst in Vergessenheit geraten. Dabei stehen Lynes' Arbeiten für Vogue oder Harper's Bazaar denen seiner berühmteren Kollegen Cecil Beaton und Horst P. Horst keineswegs nach. Die Sensation dieser Ausstellung waren allerdings nicht Lynes' wiederentdeckte Mode-, Ballett- und Porträtaufnahmen aus den dreißiger und vierziger Jahren, sondern seine nie zuvor öffentlich gezeigten Fotografien männlicher Akte.

Spät, aber zu Recht wurde Lynes zum Ahnherr einer homoerotischen Bildästhetik erklärt. Seine Aktmodelle wirken oft ein wenig versunken, als lauschten sie in sich hinein. Durch diese Mischung aus ruhiger, fast ernster Bildinszenierung und gleichzeitig unumwunden erotischem Blick des Fotografen entsteht ein „romantischer“ Zug in Lynes' Aktfotos, der in den achtziger Jahren als konservativ interpretiert wurde: Kaum war es Robert Mapplethorpe durch seine strenge stilistische Gleichbehandlung von Blüten, Früchten und sekundären Geschlechtsmerkmalen gelungen, auch die männliche Erektion kunstfähig zu machen, befanden die Kritiker, in Lynes' subtilen Akten manifestierten sich die Restriktionen der von Prüderie und Inkriminierung geprägten (Vor-)McCarthy-Ära.

Selten wurde hierbei zwischen tatsächlich veröffentlichten und freieren, nicht zur unmittelbaren Publikation vorgesehenen Arbeiten unterschieden. Vor allem aber blieb bis heute unberücksichtigt, daß Lynes in den wenigen zu Lebzeiten veröffentlichten Aktfotos einen versteckten Kommentar zum erotischen Blickverbot seiner Zeit formuliert hat.

Schon früh verlief das Leben des Fotografen in ungewöhnlichen Bahnen. Heute vor 90 Jahren in East Orange (New Jersey) geboren, unternahm er bereits als 18jähriger eine erste Europareise, auf der er Gertrude Stein kennenlernte und Zugang zu ihrem illustren Zirkel fand.

Zurück in Amerika, verhalf ihm die Bekanntschaft mit Künstlern wie Cocteau, Gide oder Man Ray zunächst zum vielversprechenden Auftakt einer verlegerischen Karriere: Noch nicht 20jährig, gibt er Werke von Stein und Hemingway heraus. Doch schon bald erlahmt sein literarischer Ehrgeiz, und Lynes wechselt zur Fotografie.

Mythologie als Feigenblatt

Seine Porträts europäischer Avantgardekünstler ermöglichen ihm rasch, ein eigenes Studio in New York zu unterhalten. Er wird zum gefragten Modefotografen; New Yorker Galerien und Museen zeigen Fotos des Autodidakten. Lynes' Meisterschaft in der plastischen Ausleuchtung des menschlichen Körpers resultiert nicht zuletzt aus seiner kontinuierlichen Beschäftigung mit der Aktfotografie. Auf eine Veröffentlichung dieser Arbeiten kann Lynes freilich nicht hoffen.

Einzig eine Reihe von zwölf mythologischen Fotos, die einen quasi akademischen Vorwand zur Darstellung menschlicher Nacktheit besitzen, erscheint 1939 in der Fotozeitschrift US Camera.

Im Begleittext zu dieser Reihe findet sich der überraschend freimütige Hinweis, der Rückgriff auf mythologische Sujets bemäntele im Grunde nur das eigentliche Interesse eines Künstlers: die Feier des schönen, nackten Körpers. Und doch liegt die Subversivität dieser Fotos nicht allein auf der Ebene einer erotisch interessierten Abbildung, sondern – dies bereits reflektierend – im mythologischen Subtext der Bilder, der oft vom Unterlaufen oder Übertreten erotischer Blickverbote handelt.

Lynes' griechische Sagenwelt ist alles andere als ein naives Nuditätenkabinett, eher schon ein Kompendium der verbotenen sexuellen Begierden und der Nachstellungen, der Kontrolle und Strafe. Trotzdem ist auf Lynes' Fotos von alldem fast nichts zu sehen. „Endymion und Selene“ etwa zeigt einen nackten jungen Mann, der im Schlaf eine runde Scheibe umfaßt hält, auf der eine mit Kratern übersäte Mondlandschaft abgebildet ist: Die Mondgöttin Selene hat den Hirten Endymion in ewigen Schlaf versenkt, damit sie ihn unerkannt besuchen und seine Schönheit betrachten kann.

Auch die „Geburt des Dionysos“ zeigt Lynes als Meister ikonograpischer Darstellungen. Die von Zeus geschwängerte Semele verlangt, den Göttervater in seiner wahren Gestalt zu sehen, und erträgt dessen Anblick nicht. Sterbend erleidet sie eine Frühgeburt; der Fötus des Dionysos wird Zeus in den Oberschenkel eingenäht. Lynes verknappt die komplexe Handlung rigoros: Wohl in der Absicht, die Blendung der Semele abzumildern, verbirgt Zeus sein Antlitz, während aus seinem linken Oberschenkel schon der Knabe Dionysos das Licht der Welt erblickt. Indem Lynes die Figur der Semele ausblendet, wird der Aspekt einer wundersamen „männlichen Mutterschaft“ unterstrichen, wohingegen das Motiv des unerlaubten Begehrens nur noch durch den entsetzt verhüllten Blick anklingt.

Mit seinen eleganten mythologischen Akten geht Lynes bis an die Darstellungsgrenzen seiner Zeit, er übertritt sie jedoch nicht. Das Thema Homosexualität taucht nur in Andeutungen auf, so etwas bei Lynes' Variationen der Orpheus-Sage. Denn daß er die endgültig an die Unterwelt verlorene Eurydike durch den Liebesgott Eros ersetzt, kann auch ganz traditionell gedeutet werden: als Orpheus' Hingabe an die Liebe und sein Scheitern an ihr.

Bei Lynes wird das Verbot zum beherrschenden Thema. Mit Altphilologie und unterschwelligem Sex durch die amerikanische Zensur – wer Ovids „Metamorphosen“ zu Rate hieht, kann auch heute noch in Lynes' mythologischer Antike spannende Entdeckungen machen.

Leicht indigniertes Gedenken der Branche

Die ersten männlichen Akte, die ohne bildungsbürgerliche Blenden auskommen, veröffentlichte Lynes 1950 im Kreis, einer kleinen schweizerischen Homosexuellenzeitschrift. Aber da selbst diese entlegene Publikationsmöglichkeit ihn in Amerika hätte kompromittieren können, legte sich Lynes nach wenigen Beiträgen ein schützendes Pseudonym zu. Unveröffentlichte Fotos und Briefe an den Sexualforscher Alfred Kinsey belegen, daß Lynes – den strafrechtlichen Gefahren zum Trotz – auch mit explizit sexueller Fotografie experimentierte.

Kurz vor seinem Krebstod 1955 vernichtete Lynes fast alle seine Modefotos. Vor allem diese Tat sichert ihm bis heute das leicht indignierte Gedenken der Branche. Reinhard Krause

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen