: Den sozialen Brennpunkt bannen
Für eine ausgewogene Einwohnerstruktur sollen in Allermöhe erstmals die Belegungsvorschriften für Sozialwohnungen fallen ■ Von Heike Haarhoff
Die Versammlung löste sich gerade auf, da zog die Bergedorfer Bürgermeisterin ihren gut gehüteten Trumpf. „Neu-Allermöhe-West wird kein weiterer sozialer Brennpunkt“, rief Christine Steinert (SPD) ins Mikrophon, als gelte es, die 200 Skeptiker aus Stadtteil und Politik mit Stimmgewalt vom Gegenteil zu überzeugen: In dem Neubaugebiet im Hamburger Südosten sollen erstmals auch Besserverdienende in den Genuß von billigen Sozialwohnungen kommen.
„Nur so“, glaubt Steinert, „können wir einen sozial stabilen Stadtteil mit ausgewogener Einwohnerstruktur hinkriegen.“Um die sorgt sich der Bergedorfer Jugendhilfeausschuß, der Mittwoch abend zur öffentlichen Anhörung in die Gesamtschule Allermöhe geladen hatte.
Mäntel wurden wieder ausgezogen, Plätze eingenommen. Mit der Baubehörde, so die Bezirkschefin, sei bereits „alles abgesprochen“: Befristet auf drei Jahre sollen die strengen Belegungsvorschriften, insbesondere die Fehlbelegungsabgabe für Sozialwohnungen, aufgehoben werden, um „kinderreiche Facharbeiterfamilien mit mittlerem Einkommen“anzulocken. Erst später sollen diese wieder zur Kasse gebeten werden. Ziel ist, die Integration mit ärmeren Bevölkerungsschichten zu fördern und den Zuzug von Sozialhilfeempfängern und Aussiedlern zu stoppen. Wer die begehrten Sozialwohnungen künftig vergibt, ist völlig offen.
Mit diesem Vorhaben bricht Hamburg erstmals mit seiner verkrusteten Wohn-Belegungspolitik. „Da wird dran gearbeitet“, bestätigte Baubehörden-Sprecher Matthias Thiede gestern knapp. Seit Jahren grämen sich Politik und Verwaltung, daß Stadtteile mit hohem Sozialwohnungsanteil zunehmend zu Ghettos für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen mutieren, weil andere auf die günstigen Wohnungen entweder keinen Anspruch haben oder so hohe Abgaben zahlen müßten, daß sie bessere Wohnlagen bevorzugen.
Diese Entwicklung, warnten Sozialarbeiter und Bezirkspolitiker am Mittwoch, zeichne sich schon jetzt in Neu-Allermöhe-West ab. Bis Anfang des nächsten Jahrtausends sollen hier 5700 Wohnungen für 18.000 Menschen aus der grünen Wiese sprießen; bis zu 80 Prozent der Unterkünfte sind öffentlich gefördert. Zusammen mit dem bereits fertigen Stadtteil Neu-Allermöhe-Ost werden 30.000 Menschen in freizeit- und jobloser Ödnis in ein- bis fünfgeschossigen Backsteinbauten hausen.
Die erst vor einem Jahr bezogene Gesamtschule hat schon heute keine Kapazitäten mehr, ganztägige, offene Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche sind Mangelware und Besserung ist nicht in Sicht: Für jede neue Sozialeinrichtung, so die Leiterin des Amts für Jugend, Vera Birtsch, muß aus finanzieller Not anderswo eine geschlossen werden.
Die beiden Sozialarbeiter im provisorischen Jugendzentrum beklagen die zunehmende Verwahrlosung kleiner Kinder und eine steigende Gewaltbereitschaft zwischen rivalisierenden Jugendbanden. 90 Prozent der Jugendlichen aus Neu-Allermöhe-West sind Rußlanddeutsche mit enormen Sprach- und Schulschwierigkeiten und meist arbeitslosen Eltern. Anwohner berichten von geklauten Fahrrädern und „subjektiven Bedrohungsängsten“. Und ratlose Politiker beschränkten sich auf Forderungen nach mehr ehrenamtlichem Engagement, Geld und „Wertewandel“, vor allem aber einer Folgekonferenz und einer Befragung der Jugendlichen zu ihren Wünschen.
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