Blind, wie sie nun mal sind

Sie hassen und sie jagen sich, und manchmal lieben sie sich auch ein bißchen: „Indian Curry“ – drei Einakter des indischen Dramatikers Chandrashekhar Phansalkar im Grips Theater  ■ Von Axel Schock

Der süßliche Geruch von Räucherstäbchen liegt in der Luft, indische Musik erklingt. Doch wer von diesen drei Einaktern des indischen Dramatikers Chandrashekhar Phansalkar einen Folklore- Abend mit fernöstlichem Zauber erwartet, der wird enttäuscht. Die drei Geschichten, allesamt locker inszeniert von Thomas Ahrens und zusammengefaßt unter dem Titel „Indian Curry“, verraten erst auf den zweiten Blick ihre kulturelle Herkunft. Ein, zwei kleine textliche Änderungen, und sie gingen ohne weiteres als deutsches Theatergut durch, so verschieden sind also weder der Humor noch die zwischenmenschlichen Regungen beider Kulturen.

„Der Club der blinden Männer“ verspricht Unterhaltung für ebensolche, alle Neuankömmlinge in diesem Etablissement fallen im wahrsten Sinne des Wortes in den Abgrund. Blind, wie sie nun mal sind, stürzen sie durch die Tür erst einmal in die Tiefe, und die anderen (Rüdiger Wandel, Hermann Vinck) lachen sich heimlich ins Fäustchen. Ein bitterböser Schabernack, und es bleibt nicht bei diesem einen.

Perfekt ausgeheckt und mit teuflischem Vorsatz wird der Neue in die Verwirrung gestürzt, bis Realität und Gaukelei nicht mehr zu trennen sind. Bis in die größte Todesangst wird der eine gejagt – zum Vergnügen des anderen. Die Geschichte braucht eine gewisse Zeit, bis sie sich entwikkelt, dann aber nimmt sie immer überraschendere Wendungen.

Ganz anders die zweite Episode, „Gleichschenkliges Dreieck“. Eine Frau zwischen zwei Männern: Beide liebt sie, beide haben ihre Vorzüge, nur einen kann sie heiraten. Appa (Christian Giese) ist zwar ein geiler Typ, mit bodybuildinggestähltem Körper, aber dafür ein etwas dummer Torfkopf. Wie anders ist da Bappa (René Schubert): zart, intelligent, mit Sinn für die Kunst und die Poesie, und singen kann er auch noch. Den nimmt sie, aber als nach vier Jahren noch kein Kind unterwegs ist, zweifelt sie erneut an ihrer Entscheidung. Vielleicht wäre der harte und dummgeile Kerl doch der in mehrfacher Hinsicht befriedigendere Gatte gewesen. Am Ende hat sie beide und auch das sehnlichst gewünschte Kind. Die Moral von der Geschicht' spricht Sulabaha (Dagmar Sitte) unmißverständlich aus: Der Bauch gehört mir. Und wer der Vater ist – warum muß ich das wissen? Für indische Verhältnisse mag diese emanzipatorische Haltung sicherlich eine Provokation darstellen, hierzulande bleibt bloß der Comedy-Spaß, und dafür braucht's in diesem Stück etwas zu lang.

Am komplexesten ist der dritte Teil: „Der Rikschafahrer“. Ein junger, verheirateter Mittelschichtsohn und belesener Intellektueller, aber dafür ein feiger Hänfling, geht an seiner eigenen Schwäche zugrunde. In dieser Gesellschaft im Umsturz, in der die alten Werte kaum noch etwas gelten und noch weniger aufrechtzuerhalten sind, herrscht die rohe Gewalt und Aggression der Großstadt. Der Fahrer eines der Motorradtaxis stellt ihm nach, wird handgreiflich, dringt in sein Haus ein. Ramesh, die Memme (René Schubert), gibt kleinlaut nach, anstatt gegen den bärbeißigen Rüpel aufzubegehren. So einer wie er, sagt der Fahrer, habe eine schöne Frau gar nicht verdient, wenn er deren Ehre nicht verteidigen könne. Soll er sich eine häßliche nehmen. Ramesh glaubt sich schlau, wenn er statt dessen das schöne Gesicht seiner Frau durch eine Kerosin-Stichflamme entstellt. Dieser schmierig- fiese Rikscha-Mann (Rüdiger Wandel) verfolgt ihn wie ein Dämon und treibt ihn nach und nach in den Wahnsinn. Ist er nur eine Traumgestalt oder Phantasie, oder ist er doch Realität? Das Stück läßt es offen.

Die europäische Erstaufführung von „Indian Curry“ (deutsch von Hausherr Volker Ludwig) ist ein Zeichen der Verbundenheit zwischen Grips Berlin und dem indischen Schauspieler, Theatermacher und Psychiater Mohan Agashe, der seit zehn Jahren bereits die Grips-Tradition in Indien fortführt. Nicht weniger als zehn Stücke – von „Max und Millie“ bis „Linie 1“ – wurden bereits adaptiert. An der „Indian Curry“-Produktion beteiligten sich eigens zwei indische Mitarbeiter: Thórumm S. Thórgrimsdóttir entwarf das schlichte, praktikable Bühnenbild. Rahul Ranande komponierte die Zwischenmusik. Und mit der gelang denn auch die beste Vermischung europäisch-indischer Kultur. Kein Wunder, daß die Band (Thomas Keller, George Kranz, Matthias Witting) für diesen treibenden Mix aus Jazz, Meditation und Folklore gefeiert wurde.

Nächste Vorstellungen 18./19.4. und 7.–9.6., jeweils 20 Uhr, Grips Theater, Altonaer Straße 22