„Wir brauchen globale Lerngemeinschaften“

■ Der Soziologe Wolf Lepenies über die Krise des Rechts als Folge der Globalisierung: Karl Marx würde sein Hauptwerk heute „Kritik der unpolitischen Ökonomie“ nennen

„Recht schafft Gemeinschaft.“ Rund tausend TeilnehmerInnen nahmen am Wochenende in Mainz an diesem Kongreß der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung teil. Gesucht wurde nach der solidaritätstiftenden Kraft des Rechts in Zeiten der Individualisierung und Globalisierung. Einer der Hauptredner war der Soziologe Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftszentrums Berlin.

taz: Der Verlust an nationaler Gestaltungsmacht wird nicht nur auf diesem Kongreß beklagt. Die „Krise des Rechts“ wird als eine unmittelbare Ursache der Massenarbeitslosigkeit identifiziert.

Wolf Lepenies: Ja, Globalisierung heißt heute, alles ökonomisch zu verstehen und damit politisch alles zu verzeihen.

Wo müßte angesetzt werden, um die Gestaltungsfähigkeit von Politik und damit – als deren Mittel – von Recht wiederherzustellen?

Dreh- und Angelpunkt müßten die deregulierten Finanzmärkte sein. Wenn Karl Marx heute noch mal ein grundlegendes Werk schriebe, hieße es nicht „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, sondern „Die Geldmärkte. Kritik der unpolitischen Ökonomie“.

Also wäre der erste Schritt auch bei Ihnen eine Besteuerung des spekulativen Kapitalverkehrs, die sogenannte Tobin-Steuer?

Ich bin Soziologe und kein Ökonom. Und selbst die Ökonomen sind sich uneinig, ob die vorgeschlagene geringe Besteuerung des Kapitalverkehrs tatsächlich die undemokratische Macht der Kapitalmärkte rationalisieren kann. Und noch ein Einwand: Wer soll das dann alles kontrollieren? Die Idee einer allmächtigen Weltregierung erregt bei mir nur geringe Begeisterung.

Haben Sie einen anderen Ansatz?

Ich habe kein Rezept, aber eine Praxis der internationalen Zusammenarbeit. Aus dieser Praxis schließe ich, daß wir globale „Lerngemeinschaften“ brauchen.

Was verstehen Sie darunter?

Es geht mir vor allem um die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und anderen Eliten, um den Austausch von Wissen in Netzwerken. Solche Lerngemeinschaften hat es nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gegeben, innerhalb Europas zwischen Deutschland und Frankreich.

Und heute?

Aus meiner praktischen Arbeit denke ich vor allem an Osteuropa. Statt gemeinsam zu lernen und den Zusammenbruch des Ostblocks als Problem für den Osten und den Westen zu sehen, schieben wir den Schwarzen Peter ganz dem Osten zu und ergehen uns in Belehrungsorgien.

Osteuropa wird in der Globalisierungsdebatte aber nur als Billigkonkurrenz wahrgenommen, die eigentliche Gefahr für die ökonomische Stellung Europas wird in Asien gesehen. Sind hier auch Lerngemeinschaften möglich?

Natürlich. Gerade von Asien können wir viel lernen. Dort wird zum Beispiel wirklich noch langfristig gedacht, nicht so sehr wie bei uns im Rhythmus der vierjährigen Legislaturperioden.

Sind Sie also ein Anhänger der „asiatischen Werte“?

Die asian values werden doch im Westen absolut überschätzt. Sie müssen diese Debatte im asiatischen Kontext sehen. Dieses Konzept wird vor allem von eher peripheren asiatischen Nationen wie Malaysia und Singapur vertreten. China und Japan haben das gar nicht nötig. Typisch für diese Nationen ist, so sehe ich das, eben nicht ein alternativer Werteentwurf, sondern eine neue Beweglichkeit im Umgang mit Werten, eher ein Werte-Eklektizismus. Man entwickelt sein Werterepertoire so, wie man es gerade für nützlich hält.

Brauchen also auch wir eine Kulturimportpolitik?

Ja. Es ist doch ein Skandal, wie wenig Studierende sich an unseren Universitäten mit Staaten wie Japan, China und Indien beschäftigen.

Zurück zur Steuerungsfähigkeit von Politik: Was bringen diese Lerngemeinschaften konkret? Lernen von innovativen Vorreitern, Konvergenz der Mentalitäten, weniger Standort-Dumping?

Das sind Utopien, die ich nicht vor mir hertragen will, aber natürlich: Das steckt letztlich dahinter.

Einen „Kampf der Kulturen“ fürchten Sie also nicht?

Nein, das halte ich für eine Ideologie, die selbst fundamentalistisch ist. Die Kulturen mischen sich. Schwere Konflikte der Zukunft werden keine Kulturkonflikte, sondern eher Bürgerkriege sein – zwischen sozial Starken und Schwachen.

Also gilt das Motto „Recht schafft Gemeinschaft – Gerechtigkeit erhält sie“?

Ja, durchaus. Und auch dies würde ich gerne in globaler Perspektive sehen. Gerechtigkeit ist kein spezifisch europäischer Wert. Aber besonders die Europäer sollten sich dazu aufgerufen fühlen, Gerechtigkeit zu einem Grundwert der Weltgesellschaft zu machen. Gerade unsere sozialstaatliche Kultur sollten wir nicht als veraltet ansehen. Ich halte sie im Gegenteil für sehr zukunftsfähig. Hier können andere auch von uns lernen. Interview: Christian Rath