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Die Erfolgsstory der Thatcher-Generation

Großbritannien vor den Wahlen (II): Die konservative Ära hat die britischen Wirtschaftsaussichten fundamental verbessert – auch für die Arbeitnehmer, denen die Deregulierung der Arbeitsmärkte langfristig eher genützt hat  ■ Von Dominic Johnson

Keynes ist tot. Der berühmte britische Ökonom, dessen Volkswirtschaftstheorie der Nachfragestimulierung durch Defizitwirtschaften eine ganze Politikergeneration beeinflußte, wurde kürzlich in einer britischen Zeitschrift als Rassist entlarvt. Zu Beginn seiner Karriere in den 20er Jahren, so fand der Ökonom John Toye aus unveröffentlichten Schriften heraus, trat Keynes für Eugenik und Geburtenkontrolle als Mittel der Sozialpolitik ein, um das ungehemmte Wachstum der Arbeiterklasse einzudämmen; er wandte sich gegen Einwanderung und fürchtete die Überbevölkerung der Dritten Welt.

Im Frühjahr 1997 erlebt Großbritannien zum ersten Mal seit den düsteren 30er Jahren wieder einen Wahlkampf, in dem die keynesianische Wirtschaftstheorie der staatlichen Investitionsstimulierung durch Kreditaufnahme von keiner ernstzunehmenden Partei mehr vertreten wird. Der Thatcherismus hat gesiegt. Selbst Labour- Chef Tony Blair sieht sich nicht als Gegner der Thatcher-Reformen, sondern als ihr Vollstrecker.

Was sollte Blair auch sonst tun? „Der kranke Mann Europas ist Europas erfolgreichste Ökonomie geworden“, schreiben die Konservativen im Vorwort ihres Wahlprogramms, und sie haben mit diesem Selbstlob fast recht – außer daß sie Irland ausgelassen haben, wo das Wirtschaftswachstum noch höher ist. Die makroökonomischen Daten sprechen für sich. Das laufende Wirtschaftswachstum beträgt nach den jüngsten Daten in Großbritannien 3,3 Prozent (Deutschland: 0,3 Prozent). Die registrierte Arbeitslosigkeit liegt bei 6,1 Prozent (Deutschland: 11,2 Prozent) – weniger als in allen anderen großen Volkswirtschaften mit den Ausnahmen USA und Japan. Von den G-7-Ländern wird nach OECD-Prognosen nur Kanadas Wirtschaft in den nächsten zwei Jahren schneller wachsen als Großbritanniens. Die Aussichten auf langfristiges Wachstum mit niedriger Inflation, so die OECD im vergangenen Dezember, seien in Großbritannien „die besten seit 30 Jahren“. Labour kann unter diesen Umständen kaum behaupten, Großbritannien sei ein krisengeschütteltes Land. Die Partei kann höchstens sagen – und tut es auch –, daß das britische Wirtschaftswunder nur einer Minderheit der Gesellschaft zugutekäme.

Dies ist jedoch eine fragwürdige These. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß Großbritannien und Irland in ihrer Wirtschaftsentwicklung ein Merkmal teilen, das in Europa die Ausnahme darstellt: Auf dem europäischen Festland waren die Jahre 1965–1980 fette Jahre, und danach setzte Rezession und Massenarbeitslosigkeit ein – auf den beiden Inselstaaten war dagegen der Zeitraum von 1965 bis 1980 eine Ära der Krisen, und wirtschaftliche Erneuerung hat in den 80er und 90er Jahren eingesetzt. Dies ist eine völlige Umkehrung der aus Deutschland – und auch aus den USA, mit deren Entwicklung die Großbritanniens oft allzu rasch gleichgesetzt wird – bekannten Verhältnisse.

In Großbritannien ist eine Generation aufgewachsen, die eine rapidere Veränderung und Verbesserung ihrer Lebensumstände gekannt hat als ihre Eltern. Diese Thatcher-Generation ist also in einem völlig anderen, selbstbewußteren Lebensgefühl aufgewachsen – und vielleicht erklärt das die Bereitschaft gerade der britischen Jungwähler, sich für die ihrer Meinung nach völlig neuartigen politischen Modelle eines Tony Blair zu begeistern.

Die 80er und 90er waren eine Zeit der Erneuerung

Ein einziger Zahlenvergleich drückt aus, worin der grundlegende Unterschied zwischen den deutschen und den britischen Lebenshorizonten in den 90er Jahren besteht. Der durchschnittliche reale Nettolohn der abhängig Beschäftigten stieg zwischen 1979 und 1994 in Großbritannien um 26 Prozent – in Deutschland um 2,5 Prozent.

Die Briten haben, wenn sie Arbeit haben, den Gürtel nicht enger schnallen müssen – und müssen es immer noch nicht: Die Steigerung der Realeinkommen betrug im Jahr 1996 in Deutschland 1,6 Prozent – in Großbritannien 4,9 Prozent. Im Februar 1997 hat die Wachstumsrate der britischen Reallöhne sogar die Fünfprozentmarke überschritten, was zuletzt in den 70er Jahren der Fall war. Damals waren die Gewerkschaften übermächtig; sie zwangen die Wirtschaft zeitweise in eine Dreitagewoche und die konservative Regierung Heath in die Knie, und es war eine Reaktion auf die Gewerkschaften, daß Margaret Thatcher ihren konservativen Feldzug begann, der sie 1979 zum Wahlsieg führte und nachher zur Zerschlagung der Arbeitervertretungen, so daß Gewerkschaften in Großbritannien heute weniger Rechte haben als überall sonst in Westeuropa.

Daß heute die britischen Arbeitnehmer trotzdem so prächtig vom Wirtschaftswachstum profitieren und ihren Anteil am Volkseinkommen erhöhen, straft diejenigen Lügen, die meinen, starke Gewerkschaften seien die Bedingung für den Wohlstand der Arbeiterschaft. Die Erfahrung der konservativen Regierungen von 1979 bis 1997 hat vielmehr das uralte Gesetz von Angebot und Nachfrage bestätigt: Verknappt sich das Angebot an Arbeitskräften, steigt der Preis. Die derzeitigen raschen Wachstumsraten der britischen Arbeitnehmereinkommen werden von allen Experten als Anzeichen für drohende Engpässe auf dem Arbeitsmarkt gewertet.

Es bestehen zwar berechtigte Zweifel daran, ob das „britische Jobwunder“ tatsächlich so wundersam ist, wie es die konservative Regierung jetzt glauben machen will. Die registrierte Arbeitslosenzahl von etwa 1,7 Millionen gilt allgemein als zu niedrig; eine international vergleichbare Zählung würde eher auf 2,1 Millionen kommen, was aber immer noch eine im europäischen Vergleich achtbare Zahl ist. Der Ersatz des bisherigen Arbeitslosengeldes durch eine von harten Bedingungen abhängige „Job Seekers' Allowance“ (JSA) im vergangenen Herbst hat dazu geführt, daß die Zahl der registrierten Arbeitslosen seitdem viel schneller fällt als vorher. Im Wahlkampf macht Labour viel Aufsehen um Tricks der Arbeitsämter, ihre Register möglichst klein zu halten.

Teilzeitarbeit ist immer noch besser als gar keine

Wer genauer wissen will, was auf dem britischen Arbeitsmarkt passiert, sollte sich daher weniger die Anzahl der gemeldeten Arbeitslosen anschauen als die Anzahl der bestehenden Arbeitsplätze. Auch da behalten aber die Skeptiker nicht recht, denn es erweist sich, daß die britische Wirtschaft im vergangenen halben Jahr 375.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen hat – ein deutlicher Erfolg in einem Europa des Arbeitsplatzabbaus. 68 Prozent der arbeitsfähigen britischen Bevölkerung steht in einem Beschäftigtenverhältnis – gegen einen EU-Durchschnitt von 57 Prozent. Wie man es drehen und wenden will: Großbritannien schafft die schwierige Aufgabe, seinen Bürgern Arbeit zu beschaffen, derzeit besser als seine europäischen Konkurrenten. Wahr ist sicher, daß viele der neugeschaffenen Arbeitsplätze befristete oder Teilzeitarbeitsplätze sind – aber auch da ist schwer von der Hand zu weisen, daß dies besser ist als überhaupt keine Arbeit. Untersuchungen zufolge wünschen sich 72 Prozent der britischen Teilzeitarbeitnehmer gar keinen Vollzeitjob – es sind oft Frauen, die nebenbei Kinder erziehen. Alle Studien belegen, daß Teilzeitarbeit den späteren Einstieg in einen Vollzeitjob erleichtert – vorausgesetzt, die soziale Mobilität ist entsprechend hoch und es gibt genug Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt. Dies wiederum setzt entsprechende Flexibilität voraus. Wenn das politische Ziel darin besteht, eine hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen in die Gesellschaft zu integrieren, kommt man also an den in Deutschland gefürchteten flexiblen Arbeitsmärkten und Deregulierungen nicht vorbei.

Großbritannien hat nach der konservativen Ära einen der am wenigsten regulierten Arbeitsmärkte Europas. Es gibt keinen gesetzlichen Mindestlohn, keine gesetzliche Beschränkung der Wochenarbeitszeit, kaum Mutterschutz, keine gesetzliche Verpflichtung auf Anerkennung von Gewerkschaften oder flächendeckende Tarifverträge. Aber bezeichnenderweise will nicht einmal Labour daran viel ändern. Von einem Mindestlohn ist zwar die Rede, aber über seine Höhe schweigen sich die voraussichtlichen Wahlsieger aus. Betriebsvereinbarungen zur Anerkennung der Gewerkschaften soll es möglicherweise geben dürfen – aber nur, wenn die Mehrheit der Beschäftigten so etwas ausdrücklich will.

Flexibilität hat zwei Seiten. Sie kann auch dem Arbeitnehmer nützen, wenn er die Möglichkeit hat, sich bei schlechter Behandlung einen neuen Job zu suchen. Man muß nicht einmal das marxistische Modell der „industriellen Reservearmee“ bemühen, um zu erkennen, daß sich für einzelne Arbeitnehmer immer mehr Möglichkeiten eröffnen, je mehr sich Großbritannien wieder der Vollbeschäftigung nähert. Eine Untersuchung der Universität London ergab im vergangenen Oktober, daß zwei Drittel der britischen Arbeitnehmer überzeugt sind, daß sie bei einem Arbeitsplatzwechsel keine finanziellen Einbußen befürchten müßten. In einer anderen Untersuchung, die sich über vier Jahre erstreckte, wurde zugleich festgestellt, daß von den Haushalten, die 1991 als arm klassifiziert waren – also mit einem Einkommen, das weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens betrug –, vier Jahre später nur 24 Prozent immer noch in dieser Kategorie steckten. Zumeist waren dies alleinstehende Rentner. Die anderen waren aufgestiegen – und andere waren abgestiegen. Zwar gibt es nach der genannten Definition in Großbritannien 14 Millionen Arme – aber es handelt sich keineswegs immer um dieselben Menschen.

Das frauenfreundliche Erbe der Margaret Thatcher

Es gibt ein einfaches Geheimnis hinter all diesen Veränderungen: Der massive Andrang von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Damit werden viele Labour-Politiker, die aus der männerdominierten Gewerkschaftsbewegung stammen, offenbar nur schwer fertig. Labours Behauptung, es gebe heute eine Million weniger Arbeitsplätze in Großbritannien als bei John Majors Amtsantritt, stimmt nur, wenn man der Meinung ist, Frauenarbeit sei keine „richtige“ Arbeit. Die Realität sieht so aus: Seit 1988 sind in Großbritannien 793.000 von Männern besetzte Vollzeitarbeitsplätze verschwunden. Neu entstanden sind 518.000 Teilzeitarbeitsplätze für Männer, 499.000 Teilzeitarbeitsplätze für Frauen und 280.000 Vollzeitarbeitsplätze für Frauen. Wie die Wirtschaftsredakteurin des Independent, Diane Coyle, vorrechnet, sind also 1997 275.000 mehr Männer arbeitslos als 1988 – aber 779.000 weniger Frauen. „Labours Angriff auf die Regierung hängt von der Annahme ab, daß die männlichen Arbeitsplatzeinbußen wichtiger sind als die dreimal höheren weiblichen Arbeitsplatzgewinne“, schreibt Coyle und kritisiert Labours rückwärtsgewandten Standpunkt weiter: „Richtige Männer arbeiten nicht Teilzeit. Richtige Männer arbeiten im Bergwerk und bringen genug nach Hause, um eine vierköpfige Familie zu ernähren.“

Diese Zeiten sind vorbei. Man sollte ihnen keine Träne nachweinen. Vielleicht hat ja Margaret Thatcher, die erste Frau an der Spitze einer britischen Regierung, entgegen allen Eindrücken doch noch ganz heimlich ein frauenfreundliches Erbe hinterlassen, dessen Wirkung erst jetzt langsam durchsickert.

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