■ Vorlauf: Martin Lüttge overdrive
„Koerbers Akte“, Sa., 20.15 Uhr, ZDF
Die Stimme des Radiomoderators schwebt über die Dächer der Stadt. Drunten in den Häuserschluchten treibt die Zigarettenmafia ihr Unwesen, fordert das Heroin ständig neue Opfer und ziehen Skinheads marodierend durch die Straßen. Sehen'se, dit is Berlin. Zumindest im Zweiten Deutschen Fernsehen hat sich der Spiegel-Titel bewahrheitet: Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert. Wer gedacht hat, daß Martin Lüttge nach seinem Abschied vom „Tatort“ nun als Staatsanwalt im Zweiten eine ruhige Kugel schiebt, sieht sich getäuscht. Lüttges Akte ist dicker denn je – woran er allerdings selbst nicht ganz unschuldig ist. Kein Fall ist zu banal, um nicht von ihm auf dem Schreibtisch gebunkert zu werden, bis selbst die oberadrette Oberstaatsanwältin ansatzweise die Contenance verliert. Selbst auf den Suizid eines Politikers ist der Streber scharf – wahrscheinlich ahnt er längst, daß irgendwie alles zusammenhängt. Verwunderlich nur, daß er trotz dieses Arbeitspensums an rapidem Realitätsverlust leidet und im Angesicht der blutjungen Stricherinnen aus der Wagenburg immer wieder „warum“ ruft – als hätte es ihn in ein Tic-Tac-Toe-Video verschlagen.
Nebenbei muß sich Lüttges Koerber noch mit seinem vertrottelten Assi herumärgern und auf allerlei privaten Nebenschauplätzen tummeln – gilt es doch, neben Iris Berben als Rosa Roth und Dieter Pfaffs Sperling einen weiteren patenten Sportsfreund vom Revier im Abendprogramm zu installieren. So hat das Drehbuch dem erdverbundenen Routinier so manch überflüssige Sonderrolle zugedacht: Im Privatleben pendelt Koerber zwischen dem Boxstall seines schwer vernachlässigten Sohnes und der nicht vorhandenen Aura seiner Ehefrau (Cornelia Froboess), einer Schwarzweiß-Kopie der Journalistin aus der Telekom-Werbung, die den lieben langen Tag vor dem Laptop rumhängt und – natürlich – ständig auf irgendeine Redaktionskonferenz muß. Da bleibt Koerber nur Zeit für ein kurzes „Ich liebe dich“, bevor er sich ermattet in die Koje begibt. Der letzten Zufluchtsstätte vor dem Drehbuch.Oliver Gehrs
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