: In diesen torlosen Zeiten
Je größer die Probleme von DFB-Kapitän Jürgen Klinsmann werden, desto größer werden jene von Berti Vogts ■ Von Peter Unfried
Bremen (taz) – Es war, als hätte der Bremer Stadionsprecher soeben das Wort zum Sonntag angekündigt. Mit der Nummer neun: Jürgen... Die Antwort war klar, doch sie kam matt. Etwa so wie: „Heinrich“. Dabei handelte es sich nicht um irgendeinen Popel, vielmehr den Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, den legitimen vierten Ehrenspielführer in spe, der da einst sitzen wird zur Rechten vom Fritz und vom Franz und vom Uwe.
Immer mehr allerdings wünschten, er wäre bereits Legende. Oder noch besser: würde es nie. „Kann Deutschland sich einen Klinsmann überhaupt noch leisten?“ hatte Bild bereits besorgt nach dem Spiel in Albanien Anfang April gefragt. Sport- Bild veröffentlicht derweil Umfragen zu den Themenkomplexen: „Soll Vogts an K. festhalten?“ Und: „Ist K. über seinem Zenit?“ – und müht sich Woche für Woche in vorgeblich ausgewogenen Beiträgen, die Antwort-Kombination: Nein/Ja zu manifestieren.
Die Vorwürfe gegen K. kann man im wesentlichen auf zwei Punkte konzentrieren. Erstens: K. ist clever. Zweitens: K. schießt keine Tore. Beides gilt auch noch nach dem mittwöchlichen 2:0 im WM-Qualifikationsspiel gegen die Ukraine.
Es ist ja wahr: 514 Minuten sind es, die Klinsmann für den DFB nicht mehr getroffen hat. Das sind achteinhalb Stunden. Um nicht zu sagen: ein drittel Tag. In Bremen muß der Kapitän sich vorgekommen sein wie zu schlimmsten Bayern-Zeiten. Vorne eingekeilt zwischen K.-Decker Beschenar, Luschni und Libero Golowko hüpfte er hin und her, ohne im gesamten Spiel zu einer richtigen Chance zu kommen.
Später dann war es nicht so, daß man unfreundlich gewesen sei zu K. – oder barsch. Das nicht. Dafür penetriert man ihn mit klitzekleinen, scheinbar harmlosen Fragen, wie jener, ob er nicht sauer sei, daß er so ganz ohne Tormöglichkeit geblieben sei. Dahinter steckt Vorwurf Nr. 1: Er selbst schafft es nicht, zu Chancen zu kommen. Da gelingt Klinsmann dann sein freundlichstes Lächeln, und er antwortet: „Nein, gar nicht.“ Es sei ja schon „sehr, sehr schwierig“, Torchancen herauszuspielen, „wenn man permanent zwischen zwei Leuten steht“.
Hier nun ist es sicher unverfänglich, nachzufragen warum der Stürmer zwischen den Leuten stand, statt sich auf den Flügeln Räume zu besorgen. Dahinter steht Vorwurf Nr. 2: Er läuft nicht mehr so viel und so schnell wie früher. Diesmal konnte er nicht. Trainer Vogts' Idee war ja gewesen, die Außenbahnen stürmerfrei zu halten, um den nachrückenden Basler und Ziege Räume zu geben. Weil aber die Ukrainer eine Stunde „mit Mann und Maus“ verteidigten, „war es sehr, sehr schwierig, die Stürmer in Szene zu setzen“ (Klinsmann).
Insbesondere da Vogts nach dem Ausfall von Bobic eine halbe Stunde verstreichen ließ, ehe er sich entschloß, das kreative Vakuum im Zentrum durch die Verschiebung der Spieler Basler und Wosz zu lindern. Der eingewechselte Jens Nowotny? Er wurde eingewechselt.
Zweimal Ziege, zweimal Heinrich, mehr war eine Halbzeit nicht, und selbst diese Bälle kamen nur ungefähr richtig geflogen. Vogts muß das auch gesehen haben, denn er relativierte hinterher sein vor dem Spiel ausgegebenes Tor-Ultimatum. „Na ja“, sagte der Bundestrainer nun, „wenn ich sehe, wie er arbeitet und an beiden Toren beteiligt war, bin ich trotzdem zufrieden.“ Bei Bierhoffs 1:0 hatte Klinsmann einen Heinrich-Einwurf zusammen mit Nowotny verlängert, zufällig auf Bierhoffs linken Fuß. Das Tor kam für die einen, etwa Vogts, als logische Folge des „erhöhten Drucks“, für andere etwas überraschend. Der Sieg war ein Kraftakt, aber längst keiner mehr von jener Wucht, wie sie letzten Juni den EM-Erfolg ermöglichte. Manchmal könnte man tatsächlich meinen, eine latente Müdigkeit ihres Anführers strahle auf das Team ab. Vielleicht ist es aber auch andersherum.
Jedenfalls zog K. wieder viel Murren auf sich. Es waren klassische Momente: K. legte den Ball elegant aus der Luft zurück, nur leider zum Gegner. Das füttert Vorwurf Nr. 3: K. läßt immer alle Bälle verspringen. Oder: K. erreichte einen scheinbar interessanten Paß nicht, weil er schlicht zu lang war. Das kann auch Vorwurf Nr. 4 zum Grund haben: K. „wird langsamer“ (Bild). Oder: K. stoppte einen Angriff, indem er den Ball 25 Meter rückwärts prallen ließ.
Dann aber sah Vogts einen „doppelten Doppelpaß“. Es war ein Ball, den Mario Basler zunächst mit der Hacke zu Wosz, dann zu Klinsmann spielte – und der ihn präzise zurück. „Beide können ja Doppelpaß“, sagte Augenzeuge Basler. Sport-Bild hingegen meldet: „Kombinationsspiel? Mit Klinsmann nicht möglich.“
Warum die Springer-Blätter Klinsmann bekämpfen, ist klar: Nie war man so stark wie zu Zeiten eines Kapitän Lothar Matthäus. Und nie so machtlos wie seit dessen Abgang Ende 1994. Seither wacht die Interessengemeinschaft Vogts/Klinsmann über das Betriebsklima und hält Distanz. Das war ein guter Grund, warum man vergangenes Jahr Europameister wurde – und Vogts und Klinsmann zu Popularitätshöhepunkten emporstiegen – ohne Unterstützung von Bild. Weil die Ansichten über Klinsmanns Qualifikation bis vor zwei Jahren so geteilt waren wie die über Vogts' Coachingfähigkeiten, fallen in diesen torlosen Zeiten aber auch andere ab und schließen sich der Anti-Kapitän-Bewegung an.
Daß man in die Phalanx bis zur WM 1998 nicht eindringen wird, scheint wahrscheinlich wie die Qualifikation nach dem 2:0. Doch man kann sie schwächen. Klinsmann war stark – und Vogts wurde es. Schwächt man Klinsmann, dann auch den, der ihn immer wieder aufstellt. Sollte nun der Kapitän tatsächlich schwächeln, schwächelte auch der Bundestrainer. Umgekehrt ja: Vogts aber kann Klinsmann nicht durchschleppen – und Erfolg haben.
96 Länderspiele hat Jürgen Klinsmann gemacht. Nur vier deutsche, zwei davon DFB-Fußballer, haben mehr – einer davon ist Franz Beckenbauer. Das muß man sehen. Und das, sagte Klinsmann in Bremen auf Nachfrage, „erfüllt einen schon ein wenig mit Stolz und Freude“. Nächste Frage: Wird man nach so langer Zeit nicht auch mal müde?
Auch da ist Klinsmann hellwach. Sofort knipst er sein Lächeln an. 32 ist er, das stimmt, aber: „Meine Beine laufen immer noch“, sagt er, „vom physischen Bereich fühl' ich mich sehr, sehr wohl.“ Noch ist nichts verloren. Am 7. Juni wird in Kiew gespielt. Wieder muß ein Sieg her. Und diesmal ist es nicht egal, wer das Tor schießt. „Weiter, weiter, weiter!“, das rief der Kapitän wie immer seinen Mannen auch in Bremen zu, „irgendwann klappt's.“ So allerdings feuern sich auch seine Feinde an.
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