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„Jeder Mensch hat einen Namen“

Mit einer Namenslesung gedachte die Jugendorganisation „Unite & Act“ der bekannten 55.696 ermordeten Juden Berlins. Eine Veranstaltung – so einfach wie eindringlich  ■ Aus Berlin Thekla Dannenberg

Auf dem belebten Wittenbergplatz mitten in der Berliner City treten am Sonnabend pünktlich um 22 Uhr Jugendliche hinter ein einfaches Pult und beginnen zu lesen. Namen von A bis Z, einfach nur Namen: „Aal, Jutta, geborene Mohr. Aal, Marta. Aaron, Anna, geborene Bonwitt. Aaron, Margot ...“ Allein für den Buchstaben „A“ werden sie eineinhalb Stunden brauchen.

Jenseits routinierter Gedenkinszenierungen gedachte die Jugendkampagne gegen Rassismus und Antisemitismus, „Unite& Act“ am Wochenende der Verfolgung und Ermordung der Berliner Juden während des Nationalsozialismus. Es war eine ebenso schlichte wie eindringliche Veranstaltung. Zum Jom Ha Shoah, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust in Israel, trugen die Jugendlichen die bekannten Namen der ermordeten Juden Berlins vor.

„,Sechs Millionen Juden‘ sagt sich ziemlich schnell“, sagt ein Junge vom jüdischen Sportverein Makkabi Berlin. „Aber um zu zeigen, daß alle einzelne Menschen waren, dafür braucht es schon länger.“ Es wird mehr als 27 Stunden dauern, bis der letzte Name der 55.696 ermordeten Berliner Juden in den späten Abendstunden des Sonntag genannt ist. Erstmals hatte im vorigen Jahr das Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde am ehemaligen Deportationsbahnhof im Grunewald mit einer Lesung der Ermordeten gedacht. Diesmal ist es der Wittenbergplatz: Hier erinnert schon seit Jahren eine Gedenktafel an die Orte der Vernichtungslager.

Um das Pult stehen in einem Halbrund ungefähr fünfzig Menschen jeden Alters und hören konzentriert und angespannt zu, bis die Liste die Namen ihrer Angehörigen erreicht. Die Lesung findet inmitten abendlicher Vergnügungslust statt. Nachtschwärmer bleiben stehen, andere gehen wortlos weiter. Nur einmal wird die Szenerie gespenstisch: Ein offensichtlich geistesgestörter Rollstuhlfahrer baut sich vor dem Pult auf, skandiert mehrmals laut „Heil Hitler“. Starr vor Entsetzen wartet die Menge, bis der Schreier von Polizisten weggerollt wird.

Scheinbar ungerührt wird die Namenslesung fortgesetzt. Die Stimme einer älteren Frau klingt wie ein Klageruf, andere rezitieren nüchtern, heben die Stimme nur, um sich gegen den Autoverkehr zu behaupten. Ein junger Mann beginnt bei der Erwähnung seiner Großeltern zu weinen, die er bei ihren Kosenamen nennt.

Erst am Sonntag, um fünf Uhr morgens, verstreut sich die Menge, nur die Mitglieder von „Unite& Act harren müde und durchgefroren aus. Am Vormittag dann füllt sich der Platz wieder mit Menschen, die zufällig vorbeikommen oder von Berichten im Radio angelockt wurden. Je länger die Lesung dauert, desto weniger monoton wirkt sie. Die nüchterne Klarheit der Zeremonie erlaubt keine Ablenkungen. Sie gibt den Raum, um in der Vorstellung die Namen wieder zu Personen werden zu lassen.

„Jeder Mensch hat einen Namen“ heißt das Gedicht der israelischen Dichterin Selda, das der Veranstaltung den Titel gab. Dieser Name, von Gott und Eltern gegeben, zeugt von Wünschen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, von Festen und Arbeit. Und vom Tod.

„Durch ihr Aussprechen werden die Namen wieder zu Menschen“, meint Bajla Krzeszower, die Leiterin des Projekts: „Das wichtigste am Gedenken ist, daß es aktiv geschieht. Das macht es für die Beteiligten so eindringlich.“ Weit nach Mitternacht wird die Lesung am Sonntag enden. Mit dem Namen „Zyzman, Leo“.

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