: Sozialarbeiterin heißt „das Opfer“
■ Kreuzberger Jugendprojekte fordern einen Runden Tisch
Der Schreck über den Vorfall saß dem Sozialarbeiter des Jugendprojekts Marthagemeinde gestern bei der Pressekonferenz des Kreuzberger Projekteplenums noch in den Knochen: Am Montag mußte der Betreuer die Einrichtung ganz schnell schließen, weil eine Gruppe türkischer Jugendlicher das Haus stürmen wollte. „Manchmal bekommt man es einfach mit der Angst zu tun“, bekannte Ludwig Held.
Die Übergriffe Jugendlicher haben „so massiv zugenommen“, daß sich das Kreuzberger Projekteplenum entschloß, an die Öffentlichkeit zu gehen (siehe auch taz vom 29. April). In einem ausführlichen Bericht legten die Vertreter des freiwilligen Zusammenschlusses der 26 freien und kommunalen Kreuzberger Kinder- und Jugendeinrichtungen gestern dar, daß die Ereignisse in der Marthagemeinde symptomatisch für die Einrichtungen des Bezirkes sind: Die Gewalttätigkeiten einiger türkischer Kids gingen bisweilen so weit, daß den Mitarbeitern nichts anderes übrig bleibe, als die Polizei zu rufen. Dies zu tun, bedeutet, mit einem langjährigen Tabu zu brechen. Aber wenn 50 junge Männer mit Baseballschlägern als „Minimalbewaffnung“ aufkreuzten, die Hälfte davon zudem Dönermesser haben und zwei Schußwaffen, „hat man keine andere Handhabe mehr“, bedauerte Held.
Die Kinder würden immer früher gewalttätig und bildeten Banden, mit denen sie ihre Territorien unter Einsatz von Waffen verteidigten. Die Anlässe für die Aggressionen seien meist minimal. Betreuer würden bedroht und verprügelt. Über eine Sozialarbeiterin wurde berichtet, daß sie von einigen Jugendlichen nur noch als „das Opfer“ bezeichnet werde. Die Mädchengruppe der Einrichtung müsse ständig sexistische Sprüche über sich ergehen lassen.
Die Vertreter des Projekteplenums verstehen die Gewalt der Jugendlichen als „Hilferuf“, mit dem diese ihre „Desintegration“ kompensierten. Die Betreuer sehen jedoch nicht ein, daß die Ausbildungs- und Arbeitsplatzmisere, das Versagen von Eltern und Schule auf ihrem Rücken ausgetragen werden. Infolge der Sparbeschlüsse gebe es in manchen Projekten nur noch einen Betreuer. Dabei seien die Einrichtungen für die Kids oftmals der einzige Bezugspunkt.
Das Projekteplenum fordert die Einrichtung eines bezirksübergreifenden Runden Tisches, an dem der gesammelte Fachverstand für Jugendhilfe und Ausbildung zusammenkommt, sowie Vertreter der Wirtschaft. Um nicht nur auf die staatlichen Zuwendungen angewiesen zu sein, haben einige der engagierten Kreuzberger bereits einen Förderverein gegründet, um Unternehmen als Sponsoren für die Jugendarbeit zu gewinnen.
Die Kreuzberger Jugendstadträtin Hannelore May (parteilos/für Grüne) begrüßt die Idee des Runden Tisches. Sie kündigte an, daß der Bezirk noch in diesem Jahr 200 zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen werde. Plutonia Plarre
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