: Die Sau rauslassen
■ Henning Voscherau bedient die Stammtische
Es wird ungemütlich in Deutschland, und die heraufziehende Kaltfront ist von Menschen gemacht. Schluß mit den „Schönwettergesetzen“ gegenüber Ausländern, fordert Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau. Mit der Stammtischparole, ausländische Straftäter sollten unverzüglich abgeschoben werden, „statt in Fuhlsbüttel oder Holstenglacis die Knäste zu verstopfen“, hat er den Wahlkampf in der Hansestadt eröffnet.
Daß das Klima bisher sonderlich heimelig war, davon haben die Migranten in den letzten Monaten wahrlich wenig gespürt. Beinahe täglich melden die Zeitungen ausländerfeindliche Gewaltakte, und unter die gepflegte Oberfläche weltoffener Zivilisiertheit sickert das Gift der klammheimlichen Freude.
Dagegen anzuarbeiten, nach Mölln und Solingen noch hehrer Anspruch, hat die Politik schon lange aufgegeben. Neu allerdings ist die Schamlosigkeit, mit der man von höchster Warte aus die Verrohung des Klimas forciert. Die objektiven Schwierigkeiten des Zusammenlebens haben sich in den letzten Monaten keinen Deut verändert, aber ihrer subjektiven Wahrnehmung wird ein rasanter kollektiver Wandel verordnet. Der von Bundespräsident Herzog postulierte Ruck, der durch Deutschland gehen solle, hier nähert er sich in Gestalt eines grummelnden Bebens: Schluß mit dem Gefasel von Integration. Das Klima soll frostig werden für Ausländer in Deutschland, denn das krisengeschüttelte Gemeinwesen braucht zur eigenen Orientierung Pole.
Innenminister Kanther hat mit einer Kette von administrativen Nadelstichen die Politik des offenen Affronts eröffnet. Theo Waigel trieb die Polarisierung weiter. Die Frage müsse erlaubt sein, warum Ausländer genausoviel Sozialhilfe bezögen wie Deutsche. Die vorgegebene Antwort überließ der Finanzminister geschickt den anderen. Berlins Innensenator Schönbohm goß mit populistisch-nationalen Sprüchen zusätzlich Öl ins Feuer. Der Spiegel reihte sich mit dem selbst herbeigeschriebenen „Ende der multikulturellen Gesellschaft“ ein. Nun hat mit Henning Voscherau offenbar auch die SPD die Lust am Tabubruch entdeckt: endlich mal die Sau rauslassen. Niemand wird sie wieder einfangen können, wenn sie erst zum Maskottchen im Bundestagswahlkampf geworden ist. Vera Gaserow
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