Wo man weiche Schuhe trägt

Die „reich & berühmt“-Theaterwerkstatt im Podewil: Dieses Jahr auch ein Festival der Topographie  ■ Von Michael Mans

„In Berlin ist es sehr heiß. Die Stadt liegt in der Wüste Nordafrikas, und die Lebensbedingungen für Menschen und Tiere sind extrem hart.“ Eine geographische Beschreibung steht am Anfang der Performance „Dreamcity – Die Stadt in Worten“ von der Gruppe Copy Club, die am Donnerstag im Podewil ihre Berliner Premiere hatte. Ähnlich beginnt Heiner Müllers „Bildbeschreibung“, aus der die Inselbühne Leipzig zwei Tage zuvor in der Parochialkirche einen verstörenden Theaterabend machte: „Eine Landschaft zwischen Steppe und Savanne, der Himmel preußisch blau.“

Und auch Elfriede Jelineks Text „Sinn egal. Körper zwecklos“, vom Berliner Theaterkombinat als Work in Progress an drei verschiedenen Abenden im Podewil szenisch umgesetzt, beschreibt eine imaginäre Landschaft. Die vom europäischen Kulturnetzwerk Gulliver und dem Kulturhaus Podewil ausgerichtete Theaterwerkstatt „reich & berühmt '97“ ist zu einem Festival der Topographie geworden. Im Taumel der frei flottierenden Informationen und globalen Medienbilder fangen wir wieder an, uns zu verorten.

„Wo wir leben und warum“, fragt Copy Club sich und seine ZuschauerInnen. „Dreamcity“ ist Berlin – und ist es auch wieder nicht: eine imaginäre Stadt, durch die die fünf Kandidaten einer Spielshow von ihrem unbarmherzigen Moderator (Alex Large) gejagt werden, um nach Liebe, Zukunft, Heimat, Aufregung und dem Mysterium zu suchen. „Dreamcity“ ist ein etwa sechs Quadratmeter großes, aus Wohlstandsmüll zusammengeklebtes Stadtmodell; die Videokamera, die durch seine Straßen bewegt wird, überträgt Bilder eines phantastischen Molochs auf die Rückwand des Podewil-Foyers, vor der sich die Darsteller bewegen.

„Dreamcity“ entsteht aus den Wünschen, Erinnerungen, Sehnsüchten und Ängsten der Figuren, die sich in ihr bewegen: Liane (Liane Sommers) erzählt von der „City of Mom and Dad“, in der alle Menschen weiche Schuhe tragen, Sean (Sean Patten) von „Speed City“, der Stadt der ständigen Beschleunigung, und Dariusz (Dariusz Kostyra) stellt sich Berlin in fünfzig Jahren vor. „Dreamcity“ ist eine Stadt voller geheimnisvoller Begegnungen: Der Säufer an der Ecke sieht aus wie mein Großvater, ein Baby im Kinderwagen ruft plötzlich meinen Namen, und irgendwann ist die Kamera im Modell vor dem Friedhof angelangt – die Grabsteine verzeichnen die Namen der Darsteller, mit exaktem Todesdatum.

In „Dreamcity“ sucht die Engländerin Liane nach Erinnerungen aus ihrer Kindheit und kommt mit einem Überraschungsei aus dem Berliner Supermarkt: „Kinder- eggs!“ Später erzählt sie von den bolivianischen Straßenmusikern, die sie in jeder europäischen Stadt antrifft: „It may sound strange, but they make me feel home.“ Das ist eine traurige und merkwürdige Quintessenz des Abends: Das Eigene finden wir nur noch im Globalen, schon unsere Vergangenheiten sind weltweit ähnlich.

Copy Club, einem Arbeitszusammenhang aus dem Umkreis des Frankfurter TAT und der britischen Gruppe The Gob Squad, ist mit dieser Performance etwas Außergewöhnliches gelungen. Sie erzählt treffend, witzig und zugleich mit tiefem Ernst von der Generation der 25- bis 35jährigen Großstadtbewohner und benötigt dazu weder das oberflächliche Konstrukt eines urbanen Lebensgefühls noch die Pseudoauthentizität persönlicher Bekenntnisprosa. Die lockere dramaturgische Klammer der Show gibt dem Konzept des story telling einen Rahmen, in dem die Darsteller als Showkandidaten Figuren eines Spiels bleiben, auch wenn noch so viel Persönliches in ihre Texte eingeflossen ist.

Der Hauptdarsteller in der Leipziger Produktion „Bildbeschreibung“ nach einem Prosatext von Heiner Müller ist in Berlin der riesige Raum der Parochialkirche. Die Gruppe um die Regisseure Knut Geißler und Stefan Kanis versteht, ihn zu inszenieren, und so macht es vor allem Spaß, den Bewegungen der Darsteller in dieser immensen Weite zuzusehen. Bei der Zurüstung des Prosatextes für die Bühne halten sich die Leipziger an bewährte Rezepte: Brechungen, Ungleichzeitigkeiten, Wiederholungen, dazwischen einige Spielszenen, die von der Schwierigkeit einer Bildbeschreibung handeln, und Choreographien, in denen die latente Aggressivität der Vorlage unnötig deutlich verdoppelt wird.

Die Jelinek-Aktion des Theaterkombinats war zumindest am ersten Abend wenig mehr als ein Hörspiel: Vier halb oder ganz entkleidete Darstellerinnen flüsterten in vier verschiedenen Räumen den Text ins Mikrophon, das Publikum verharrte meist auf dem Gang, wohin das Geschehen per Lautsprecher übertragen wurde.

Einer wird noch seinen Ort finden auf dem Festival: Chaim Levano spielt heute und morgen, auf einer Glasplatte unter der Decke der Sophiensäle liegend, „Mal hören, was noch kommt“ nach einem Text von H.J. Schädlich in der Regie des Dresdner Regisseurs Carsten Ludwig. „Ein Ich-Erzähler bespricht sein Sterben. Alle Organe stehen auf halbmast, nur das Gehör funktioniert“, heißt es in der Vorankündigung. Topographie des Körpers? Wir werden sehen.

„reich & berühmt '97“: Informationen und Termine beim Podewil erfragen, Tel. 24749732