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Dichter oder Killer

■ Uraufführung in Stuttgart: Patrick McCabe hat aus seinem Roman „Der Schlächterbursche“ ein Theaterstück gemacht

Zuerst stirbt die Mutter, dann geht Freund Joe eigene Wege und wird zum angepaßten Jungen. Als der Vater stirbt, ist Francie etwa zwölf Jahre alt und hat bereits einige Monate Erziehungsanstalt hinter sich. Anstatt preiszugeben, daß der Vater tot ist, läßt er ihn in der Wohnung verfaulen. Der alte Brady war zwar ein prügelnder Mistkerl, doch ganz allein zu sein verkraftet Francie noch weniger. Am Ende nimmt der Upperclassboy das Bolzenschußgerät aus der Schlächterei, in der er neuerdings arbeitet, und setzt es am Kopf der hochgezüchteten Mittelklassenlady Mrs. Nugent an.

Francie ist der „Butcher Boy“ von Patrick McCabe. McCabe dramatisierte seinen Roman selbst, überzeichnete ihn dabei grotesk und stattete ihn mit poetischen Wortspielen aus. Die Bühnenfassung wird im angelsächsischen Raum inzwischen von einer Reihe kleinerer Theater gespielt. Stuttgarts Regisseur Wilfried Minks und sein Dramaturg Michael Propfe erarbeiteten allerdings eine eigene Spielfassung, um den neuen Stern am irischen Literatenhimmel in Deutschland vorzustellen. Daß Neil Jordan zeitgleich eine Verfilmung des „Schlächterburschen“ fertiggestellt hat – gedreht wurde in McCabes Geburtsort Clones an der irisch-irischen Grenze –, zählt zu den Zufällen des Kulturbetriebs. (Der Film läuft auf dem Festival in Cannes und kommt demnächst in unsere Kinos.)

Nicht zufällig ist das große Interesse am „Schlächterburschen“. McCabe hat alles andere als eine Sozialstudie in Reaktion auf das Medienthema einer vermeintlich verrohenden Jugend geschrieben, sondern einen der besten Romane der letzten Zeit über die allmähliche Vereinsamung eines Jugendlichen. In der Stuttgarter Bühnenfassung nähert man sich eher der Romanvorlage und nicht den grotesken Überzeichnungen von McCabes Dramatisierung. Es bleibt zwar dabei, daß die Hauptfigur in einen älteren, erzählenden Frank und einen jungen, agierenden Francie geteilt ist, insgesamt allerdings ist die Geschichte episch breiter ausgefallen.

Minks hat das als schnelle Szenenfolge inszeniert, manchmal allerdings schleichen sich Längen ein. Etwa wenn ein kurzer Fluchtversuch des Jungen nach Dublin nachempfunden wird und sich die dichte Atmosphäre verflüchtigt, die hauptsächlich von Samuel Weiss in der Rolle des Francie getragen wird. Phänomenal, was Weiss leistet: wie er die Phantasiebereiche des Jungen ausmalt, und wie der sein Spiel mit Blutsbruder Joe weiterspinnt, um als schwebender Vogel zum irischen Kleinstadtindianer zu werden. In seinen Phantasielüften kann ihm keine der verkorksten Katholikenladies aus der irischen Provinz nahekommen, die auf ihn und seine Familie herabsehen. Oder wie er zum entspannt schlaksigen Jungen wird, sobald er mit Joe zusammen sein kann, seiner Leitfigur. Francie überlebt, weil er die ihm zugefügten Kränkungen in Rollenspiele ummünzt. Eigentlich könnte er zum Dichter werden; so wie die Dinge stehen, wird er zum Killer.

Hinter dem jungen Francie steht der ältere Frank, der sich hinter den Gittern einer Irrenanstalt erinnert: Hätte die affektierte Mrs. Nugent nur nicht ihre Nase überall reingesteckt und einen Keil zwischen Joe und ihn getrieben, so daß Joe zum „Verräter“ werden und beim Ausgrenzungsspiel gegen Francie mitmachen mußte. Wenn Norbert Schwientek spielt, wie die Erinnerung den Körper des älteren Frank heimsucht, geht es um Schauspiel auf Stuttgarts Bühne. Wird Schwientek zum Erzähler, bleibt er hinter seinen Möglichkeiten zurück.

So ist es vor allem Renate Jett in der Rolle von Francies Mutter, die neben Samuel Weiss daran erinnert, warum Stuttgarts Schauspiel unter Friedrich Schirmer zu einer der spannendsten bundesrepublikanischen Bühnen geworden ist. Sie spielt eine in sich gekehrte Traumtänzerin an der Grenze zum Wahnsinn. Solche Typen sieht man in den letzten Spielzeiten häufiger auf Stuttgarts Schauspielbühne. Erstaunlich, daß sich damit ausgerechnet in der braven Mercedesstadt Zuschauerränge füllen lassen. Jürgen Berger

Patrick McCabe: „Der Schlächterbursche“. Regie und Bühne: Wilfried Minks. Dramaturgie: Michael Pfropfe. Mit Samuel Weiss, Norbert Schwientek, Renate Jett. Staatstheater Stuttgart. Weitere Aufführungen: 14., 22., 24. 5.

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