: Verurteilt zum Unglücklichsein
■ Ein Gerichtsentscheid zur Kostenerstattung bei Psychotherapien bringt KlientInnen und TherapeutInnen in die Bredouille
Selbst Frauen, die über Jahre mißhandelt worden sind, müssen aufgrund eines kürzlich ergangenen Gerichtsbeschlusses um die Finanzierung ihrer Psychotherapie fürchten. Nach dem Urteil des Essener Landessozialgerichts, in dem die Technikerkrankenkasse (TK) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) unterlegen war, ist die TK rechtlich gezwungen, nur noch von sogenannten Vertragsbehandlern durchgeführte Psychotherapien zu bezahlen. Allein in Hamburg müssen jetzt Tausende von Therapieanträgen überprüft werden. „Wie das in der Zukunft gehandhabt werden soll, ist noch völlig offen“, sagt TK-Pressesprecherin Sabine Nöthlich.
„Viele werden noch kränker, und ihr Suizidrisiko steigt“, befürchtet Julia Kloth von der Opferhilfe e.V. Auch die Frauenberatungsstelle Kattunbleiche in Wandsbek beobachtet eine Zunahme von Fällen, in denen die Kassen eine Kostenübernahme für Psychotherapien verweigern, so Mitarbeiterin Petra Kost.
Der Streit um die Kostenerstattung bei Psychotherapien ist nur ein Beispiel für den Verteilungskampf, in dem sich die Angehörigen der heilenden Berufe die letzten Pfründe sichern. Bisher wurden Therapien zur Hälfte von psychologischen Psychotherapeuten und zu je einem Viertel von sogenannten Delegationspsychologen und ärztlichen Psychotherapeuten erbracht. Die Kassenärzte wollen erreichen, daß nur noch Ärzte und Delegationspsychologen (zumeist Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeuten) mit den Krankenversicherungen abrechnen dürfen.
„Die Ärzte wollen sich den Markt nicht von den Therapeuten streitig machen lassen, obwohl sie den tatsächlichen Bedarf gar nicht abdecken können“, spottet ein Insider. Matthias Kriesel vom Hamburger Arbeitskreis niedergelassener Psychologen befürchtet, der Gerichtsentscheid produziere nicht nur „unglücklichere Menschen“, sondern auch steigende Ausgaben im Gesundheitswesen – etwa für Psychopharmaka.
Die psychotherapeutischen Praxen in Hamburg verzeichnen augenblicklich Einbußen von bis zu 50 Prozent. Auf der anderen Seite gleicht die Suche ihrer Klienten nach einem Vertragsbehandler und einem freien Therapieplatz oft einer Odyssee. Julia Kloth von der Opferhilfe berichtet von einer ratsuchenden Frau, die nach ihrer Vergewaltigung eine Therapie über 25 Sitzungen begonnen hatte. Die beantragte Verlängerung wurde von der Kasse abgelehnt. „Ich habe ihr angeboten, zu uns zu kommen, aber die verzweifelte Frau konnte sich nicht vorstellen, ihre Ansprechpartnerin zu wechseln.“
Die MitarbeiterInnen der Frauen-Beratungsstellen Kattunbleiche, Dolle Deerns e.V. und BIFF fordern daher gemeinsam mit den Psychologen eine Therapiewahlfreiheit für die betroffenen Frauen. Der Berufsverband der Psychotherapeuten ruft für den morgigen Mittwoch zu einer Demonstration nach Bonn auf, um seiner Forderung nach Verabschiedung eines Psychotherapeutengesetzes Nachdruck zu verleihen. Um 14 Uhr tagt dort der Gesundheitsausschuß des Bundestages. Lisa Schönemann
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