: Plutoniumfracht ins All
Die Nasa schießt im Oktober einen Forschungssatelliten mit Atombatterien zum Saturn – obwohl ungefährliche Alternativen denkbar wären ■ Von Matthias Urbach
Berlin (taz) – Unter der Titan- IV-Trägerrakete bilden sich große Wolken, langsam hebt die metallene Zigarre ab, bohrt sich in den Himmel. Die Nasa-Techniker in Cape Canaveral johlen und klatschen, plötzlich erstarren sie: Hundert Sekunden nach dem Start explodiert ihre Rakete, die Wucht zerfetzt die geladenen Spionagesatelliten. Das war am 2. August 1993. Anfang Oktober soll die Titan-IV wieder ins All steigen. Dieses Mal wird sie die Saturnsonde Cassini an Bord haben und mit ihr oxidiertes Plutonium 238 – insgesamt 23 Kilogramm der gefährlichsten Substanz der Welt.
Eine „enorme Bedrohung für das Leben auf der Erde“ nennt die in Florida ansässige Koalition für Frieden und Gerechtigkeit (FCPJ) den geplanten Start. Sie fürchten, daß die Plutoniumbatterien von Cassini bei einem Fehlstart verglühen und weite Landstriche radioaktiv verseuchen könnten. Sie verlangen, die Cassini-Sonde mit Sonnenenergie statt mit Plutoniumbatterien zu versorgen. Doch die Nasa will nicht auf die radiothermischen Generatoren verzichten, denn sie bieten eine simple und zuverlässige Energiequelle.
Doch auch die Nasa gibt in ihrer Risikostudie von 1994 zu: Im schlimmsten Fall könnten in 50 Jahren 2.300 Menschen an Krebs sterben. Der schlimmste Fall kann passieren beim Schwungholen von Cassini: Da die Antriebsstufen nicht stark genug sind, um Cassini auf die lange Reise zum Saturn zu bringen, führt die Flugbahn zweimal an der Venus und schließlich im August 1999 noch einmal an der Erde vorbei. Dabei beschleunigt die Sonde durch die Anziehungskraft der Planeten. Mit 68.000 Stundenkilometern wird die Sonde an der Erde vorbeirasen – eine kleine Kursabweichung, und die Kapsel würde wie ein Meteor zur Erde stürzen, die meisten Plutoniumkapseln verglühen.
„So wie die Nasa in der Ursprungsstudie rechnet, entspricht das etwa dem GAU in Tschernobyl“, erklärt der Kernphysiker Martin Kalinowski von Ianus, der Interdisziplinären AG Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit. Denn Folgeschäden wie höhere Kindersterblichkeit, Herzerkrankungen und Immunschwäche durch radioaktive Bestrahlung berücksichtigt die Studie nicht. Doch auch ohne das kommt sein Kollege Ernest Sternberg von der Medizinhochschule in Pittsburgh zu wesentlich höheren Todeszahlen. Sein Urteil nach Durchsicht der ersten Studie: „Die Nasa-Studie unterschätzt die Krebsrate allein um den Faktor 2.000 bis 4.000 – wir sprechen in der Größenordnung von 10 bis 20 Millionen Toten!“, wenn die Raumsonde über dicht besiedelte Gebiete niederginge.
Bis Ende Mai liegt nun die überarbeitete Studie der Nasa für Einsprüche von Bürgern aus. Darin hat die Raumfahrtbehörde die Todesrate noch einmal um den Faktor 20 nach unten korrigiert: Demnach sei in 50 Jahren nach einer Kollision mit der Erde nur noch mit 120 Krebstoten zu rechnen. Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt laut Nasa in der alten wie der neuen Studie eins zu 1,3 Millionen – hundertmal wahrscheinlicher, als den Lottojackpot zu knacken. Allerdings würden nur wenige Plutoniumkapseln verglühen, betont die Nasa.
Doch wie realistisch sind solche Angaben? Vor dem Challenger- Unglück gab die Nasa die Wahrscheinlichkeit für einen Fehler in der Antriebsstufe mit eins zu 100.000 an. „Nach der Explosion korrigierten sie das Risiko auf eins zu 72“, so der Physiker Michio Kaku von der New Yorker City Universität.
Die Europäische Raumfahrtbehörde ESA ließ für ihre eigene Sonde Rosetta, mit der sie 2013 den Kometen Wirtanen besuchen will, spezielle Solarzellen entwickeln, die auch noch weit entfernt von der Sonne genug Strom produzieren. Doch sie drängt der Nasa ihre Technik nicht gerade auf. Schließlich ist die ESA selbst mit einer kleinen Landefähre an Cassini beteiligt und will das Projekt nicht gefährden.
Auch die US-amerikanische Presse schenkt dem Thema kaum Aufmerksamkeit. So ergatterte es den aktuellen Platz eins des „Project Censored“ („Projekt zensiert“), den die staatliche Sonoma Universität in Kalifornien jährlich für von den Medien vernachlässigte Probleme verleiht.
Präsident Clinton wird, angesichts der bereits 3,4 Milliarden Mark an Steuergeldern, die in Cassini stecken, den Countdown kaum abbrechen. Seine Zustimmung ist eigentlich nur eine Formsache. Sie ist nötig, weil radioaktives Material ins All geschossen wird. Und es soll nicht das letzte Mal sein: Insgesamt 132 Kilogramm Plutonium sollen bei zwölf weiteren Missionen bis 2009 ins All geschleudert werden.
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